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Versöhnung im Exil: Wie ein Kolumbianer in der Schweiz die Aufarbeitung des Konflikts erlebt

Versöhnung ist ein wichtiges Ziel von Friedensarbeit. Kolumbien hat erstmals systematisch Menschen miteinbezogen, die oft vergessen werden: jene im Exil. Der in die Schweiz geflohene Jehisson Santacruz ist einer von ihnen.

Von 1958 bis 2016 bekriegten sich in Kolumbien der Staat, linke Guerillas wie die FARC und rechte paramilitärische Gruppen. Bis heute schwelt der Konflikt weiter. Eine kolumbianische Wahrheitskommission nahm 2018 ihre Arbeit auf – um die begangenen Menschenrechtsverletzungen aufzuarbeiten.

Jehisson Santacruz gehört zu den Millionen Vertriebener in Folge des Konflikts. In Kolumbien setzte sich der Künstler für Indigene ein. Dies bezahlte er beinahe mit dem Leben, als ein mutmasslich rechter Paramilitär auf einem Motorrad 32 Schüsse auf ihn abgab. Wie durch ein Wunder wurde er nur leicht verletzt. Nach der Attacke folgten Drohungen gegen seine Familie und ihn. Santacruz beschloss aus Cali zu fliehen, 2019 verschlug es in die Schweiz.

Das Ziel der kolumbianischen Wahrheitskommission war es, Ursachen und Muster des Konflikts und seiner langen Dauer aufzuklären. Die Aufarbeitung hat auch Empfehlungen zum Ziel, wie Staat und Zivilgesellschaft eine ähnliche bürgerkriegsähnliche Situation in Zukunft verhindern kann – und soll der heutigen Gesellschaft in Kolumbien eine gemeinsame Wahrheit schaffen.

Dafür hat die Wahrheitskommission 30’000 Opfer und Täter, Augenzeug:innen und Überlebende interviewt. Nicht nur in Kolumbien: Auch in 23 anderen Staaten hat die Kommission rund 2100 Zeugenaussagen gesammelt.

Jehisson Iván Santacruz Giraldo ist einer von 60 Zeug:innen in der Schweiz.

Publikum schaut zu Rednder auf Podest im Vordergrund
Veranstaltung der Wahrheitskommission mit der Raizal-Gemeinschaft auf dem San Andrés Archipel, 26. Mai 2022. Solche wurden im ganzen Land durchgeführt. Juan David Moreno Gallego/AFP

Die Aussagen des Exils gesammelt

Santacruz floh erst nach dem Friedensschluss zwischen der Regierung und der FARC –die Befriedung Kolumbiens ist mit der historischen Vereinbarung keineswegs abgeschlossen. Der Drogenhandel und die Präsenz bewaffneter Gruppen sorgen weiterhin für Gewalt.

In der Schweiz hat Santacruz Asyl erhalten, konnte dank einem Integrationsprogramm ein Kunststudium absolvieren. Er ist sich bewusst, dass seine Lebensumstände unvergleichbar besser sind als die vieler geflohener Landsleute. Aber das unfreiwillige Leben in der Fremde hat er nicht gesucht, es ist ihm aufgezwungen worden. Lange hat er darunter gelitten.

Die Anfrage, für die Wahrheitskommission auszusagen, sei für ihn kathartisch gewesen. Immerhin war es das erste Mal, dass ihn seit seiner Flucht jemand danach fragte.

Eine wegweisende Wahrheitskommission

Solche Kommissionen gab es Dutzende zu vielen Konflikten seit den 1970er-Jahren. Die kolumbianische Wahrheitskommission ist aber die erste, die systematisch Menschen im Exil miteinbezogen hat. Sie hat das Exil aufgrund des bewaffneten Konflikts auch explizit als Menschenrechtsverletzung eingestuft.

In der Schweiz hat die Friedensstiftung swisspeace die Partizipation der Diaspora und die Sammlung der Zeugenaussagen koordiniertExterner Link. Die Stiftung ist vom Bund mandatiert, Projekte zur VergangenheitsarbeitExterner Link (auf Englisch geläufig: “Transitional Justice”) zu lancieren. Vergangenheitsarbeit heisst: Gesellschaften dabei helfen, einen Umgang mit einer belasteten Vergangenheit zu finden und einen Versöhnungsprozess anzugehen.

“Die Kolumbianische Wahrheitskommission ist sehr innovativ und hat weltweit grosse Aufmerksamkeit erhalten”, sagt Lisa Ott, die den Themenbereich Vergangenheitsarbeit bei swisspeace leitet. Der Einbezug grosser Teile der Gesellschaft, der weite thematische Fokus und die durchgehende Digitalisierung würden ihr einen Modellcharakter geben. Auch der Einbezug der Menschen im Exil sei eine wichtige Neuerung: “Konflikte führen immer zu Fluchtbewegungen. Diese Menschen leiden doppelt darunter – als Opfer des Konflikts und als Geflohene im Exil.” Andere Wahrheitskommission weltweit könnten von dieser Erfahrung lernen.

Seit über einem Jahrzehnt versucht sich die Schweiz in dem Themenfeld Vergangenheitsarbeit international zu positionieren. “Das ist Teil der schweizerischen Aussenpolitik, global Friedensprozesse zu unterstützen”, sagt Ott.

Menschengruppe in einem Saal mit Blick auf das Podium
Treffen zwischen ehemaligen Kämpfern der erloschenen FARC-EP-Guerilla und indigener sowie afroamerikanischer Gemeinden in Apartado, 23. Juni 2022. Juan David Moreno Gallego/AFP

Die Schweiz engagiert sich in Kolumbien

Kolumbien ist seit zwei Jahrzehnten ein Schwerpunktland der schweizerischen Friedens- und Menschenrechtspolitik. Zusammen mit anderen Ländern bot die Schweiz über viele Jahre ihre Mediationsdienste an, viel davon ist – wie üblich in solchen Angelegenheiten – bis heute nicht öffentlich bekannt. Dass es sich aber um einen bedeutenden Beitrag handeln könnte, zeigte eine MeldungExterner Link vom Oktober 2023: Die Schweiz ist seither Garantenstaat bei den Verhandlungen zwischen der kolumbianischen Regierung und der Rebellengruppe ELN. Sie wird den Verhandlungen beiwohnen und den Prozess politisch und technisch unterstützen.

Zur Kolumbianischen Wahrheitskommission gibt es noch einen weiteren Bezug: Eine digitale SicherheitskopieExterner Link ihrer Archive wird in der Schweiz angelegt. Darin finden sich auch die Aussagen der Befragten im Exil. Also auch jene von Jehisson Santacruz, der sein Leben in der Schweiz weiterführt.

Editiert von Benjamin von Wyl

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