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“Bundesrat weit weg von der Bevölkerung”

Andreas Blum ist für eine Regelung der Sterbehilfe. ZVG

Die Landesregierung ist derzeit daran, das Thema Sterbehilfe zu behandeln. Das hat Streit gegeben. Denn die Minister finden keinen Konsens. Für Andreas Blum, Ex-Sprecher der Sterbehilfe-Organisation Exit, politisieren die Minister am Volk vorbei.

swissinfo.ch: Viele Leute haben Mühe mit der Vorstellung, in den Tod begleitet zu werden. Was macht für Sie die Sterbehilfe ethisch verantwortbar?
Andreas Blum: Das Recht des Menschen auf seinen eigenen Tod ist ein Menschenrecht, es ist Ausdruck des Selbstbestimmungsrechts und der Würde des Menschen.

Der Mensch wird ja nicht gefragt, ob er geboren werden will. Er muss dieses Geschenk annehmen, ob es nun von Gott oder von irgendwoher sonst kommt.

Zum Charakter eines Geschenks gehört aber auch, dass es wieder zurückgegeben werden kann.

Es ist meine tiefe Überzeugung: Der betroffene Mensch allein hat darüber zu entscheiden, wann sich der Sinnkreis des Lebens für ihn geschlossen hat.

Das ist ein hoher Ausdruck seiner Menschenwürde. Dies macht das Mensch sein im Wesentlichen aus, dass der Mensch in den existenziellen Fragen selber entscheiden kann.

Es ist deshalb ethisch nicht nur verantwortbar, sondern sogar geboten, Menschen in einer subjektiv als hoffnungslos erfahreren Lebenssituation zu helfen.

Und das wäre dann, um ein grosses Wort in den Mund zu nehmen, auch ein Akt der christlichen Nächstenliebe.

swissinfo.ch: Die Landesregierung ist derzeit tief gespalten in Fragen zur Sterbehilfe. Wie erklären Sie sich den Streit im Bundesrat?

A.B.: Für mich kommt dieser interne Konflikt zwar nicht ganz überraschend, aber rational nachvollziehbar ist er nicht. Wir haben seit über 60 Jahren eine sehr liberale Regelung der Sterbehilfe – ich unterstreiche das Wort Hilfe. Und eigentlich hätte die Schweiz Grund, auf diese liberale Regelung stolz zu sein.

Was mich an der augenblicklichen Situation besonders nervt: Es ist ein Beispiel mehr dafür, dass die Landesregierung an den existenziellen Problemen der Bevölkerung vorbeipolitisiert.

Drei Viertel der Menschen in unserem Land sagen ganz klar und dezidiert Ja zur Freiheit des eigenen Sterbens und zum begleiteten Suizid.

Und da gibt es noch immer Fundamentalisten, insbesondere von katholischer Seite, die das Rad zurückdrehen wollen – zum Schaden von Menschen, die durch die aktuellen Schlagzeilen wieder tief verunsichert werden. Das ist ein verantwortungsloses Spiel, das der Bundesrat im Augenblick treibt.

swissinfo.ch: Der Bundesrat will nun zwei Varianten in die Vernehmlassung schicken. Ein Vorschlag ist ein Totalverbot von Organisationen wie Exit und Dignitas.

A.B.: Dieser Vorschlag ist absurd. Es wäre ein gravierender Schritt zurück, eben weg von einer liberalen Politik, die im Grunde genommen sehr vielen Menschen ein würdiges, friedliches Sterben ermöglicht hat.

Ich sehe inhaltlich keinen einzigen Grund, die heutige Regelung grundsätzlich in Frage zu stellen. Aber ich bin überzeugt: Im Parlament wird ein Verbot der Sterbehilfe-Organisationen keine Chance haben.

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Vernehmlassung

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Die Vernehmlassung oder das Vernehmlassungsverfahren ist die Konsultation von betroffenen und interessierten Kreisen (auch Mitwirkungsverfahren). Sie ist eine wichtige Phase im schweizerischen Gesetzgebungsverfahren. Bei der Vorbereitung wichtiger Gesetze und anderer Vorhaben von grosser Tragweite sowie bei wichtigen völkerrechtlichen Verträgen werden die Kantone, die politischen Parteien und die interessierten Kreise zur Stellungnahme eingeladen.

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swissinfo.ch: Der andere Vorschlag ist, den Organisationen rechtliche Schranken zu setzen.

A.B.: Ich war einer der ersten, die von Anfang an gesagt haben, dass es solche Schranken braucht, gerade auch wegen missbräuchlichen Praktiken. Ich bin insbesondere der Meinung, dass jede Gewinnorientierung von Sterbehilfe-Organisationen gesetzlich verboten werden müsste.

Es gibt aber noch andere Regelungen, die Sinn machen. Sterbehilfe-Organisationen agieren in einer Grauzone, in einem Bereich, der sowohl ethisch wie rechtlich sehr sensibel ist. Wo viel Freiheit ist, muss auch die Verantwortung entsprechend gross sein. Das ist heute aber nur bedingt der Fall.

Eines ist klar: Es wäre das Ende der Glaubwürdigkeit jeder Art von Sterbehilfe, wenn mit dem Tod von Menschen ein Geschäft gemacht werden könnte.

swissinfo.ch: Die Sterbehilfe-Organisation Dignitas hat den Sterbehilfe-Tourismus bekannt gemacht. Ist dieser Trend ein Problem für die Schweiz?

A.B.: Das ist ein sehr heikles und komplexes Problem. Auf einer abstrakten Ebene ist klar: Wer Ja sagt zum begleiteten Suizid, darf nicht unterscheiden zwischen Schweizern und Nicht-Schweizern.

Mit anderen Worten: Wer Ja sagt zum begleiteten Suizid, kann nicht unterscheiden zwischen Schweizern und Nichtschweizern. Aber das ist nur die Fassade des Problems. Dahinter verbergen sich so viele Teilprobleme.

Das Problem liegt in der praktischen Umsetzung. Konkret: Würde Exit den Weg beschreiten, Ausländern wie Dignitas ein Sterben in Würde zu ermöglichen, würden wir überschwemmt von Anfragen und wären durch die damit verbundene Arbeit vollständig überfordert.

Ein Randproblem, das mich dabei besonders beschäftigt: Wer könnte denn in die Schweiz fahren, um von einer schweizerischen Sterbehilfe-Organisation in den Tod begleitet zu werden?

Die Antwort ist klar: Diejenigen, die es sich leisten können. Und dann hätten wir auch hier eine Zweiklassen-Gesellschaft, was gerade unter ethischen Aspekten abzulehnen ist.

Die kleine Schweiz allein kann ein globales Problem nicht lösen. Lösbar ist es nur, wenn andere Staaten der Schweiz folgen in der liberalen Regelung der Problematik und hier ihre gesetzliche Basis den Realitäten anpassen.

Christian Raaflaub, swissinfo.ch

Gemäss der Umfrage einer Westschweizer Zeitung im April dieses Jahres befürworten drei Viertel der Schweizer die Suizidhilfe.

56,5% der Befragten konnten sich vorstellen, im Fall einer schweren Krankheit ohne Aussicht auf Besserung selber von der Suizidhilfe Gebrauch zu machen.

In der Frage des Sterbetourismus hielten sich die Meinungen die Waage: Je etwas über 45% der Befragten äusserten sich positiv oder negativ darüber.

Der 71-Jährige studierte Geschichte und Philosophie.

Ab 1967 war er Schweizer Radio DRS tätig, zuerst als Redaktor, ab 1979 bis zur Pensionierung 1999 als Direktor.

Zudem war der Sozialdemokrat auch politisch engagiert, in den siebziger Jahren als Grossrat des kantonalen Parlaments in Bern und als Nationalrat im Eidgenössischen Parlament.

Nach der Pensionierung war Blum bis Mitte Oktober 2007 Medienbeauftragter und Vorstandsmitglied der Sterbehilfe-Organisation Exit.

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