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Weiter Weg zu mehr direkter Demokratie in Deutschland

Gelebte Demokratie an der Landsgemeinde in Appenzell Innerrhoden. EQ Images

In der Schweiz werden die Bürger so häufig an die Urnen gerufen wie nirgendwo sonst. In Deutschland hingegen ist die direkte Bürgerbeteiligung auf die Bundesländer beschränkt. Aber die Stimmen nach Reformen werden lauter, Referenz ist die Schweiz. 


Erfunden haben die Schweizer die direkte Demokratie zwar nicht, doch wird sie hier schon seit dem 19. Jahrhundert angewendet und weiterentwickelt. So weit, dass die Schweiz als die am stärksten ausgebaute direkte Demokratie gilt und vielerorts als Vorbild gilt.

In Deutschland werden die eidgenössischen Volksabstimmungen aufmerksam registriert und in den Medien ausgiebig kommentiert. Denn auch dort werden die Stimmen nach mehr direkter Bürgerbeteiligung immer lauter.

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«Ich finde Volksabstimmungen gut, weil die Bürger direkten Einfluss auf Entscheidungen haben», sagt Sybille Heine bei einer Umfrage auf der Friedrichstrasse in Berlin. «Wenn die Bürger beteiligt werden, akzeptieren sie politische Entscheidungen und schimpfen nicht immer auf die da oben», sagt auch Irene Bamberger.

Keine nationalen Volksabstimmungen

Laut einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Emnid von November 2013 sind 84 Prozent der Bundesbürger für Volksabstimmungen auf Bundesebene. Denn Deutschland ist eine der wenigen westlichen Demokratien, die keine landesweiten Volksabstimmungen und Volksinitiativen kennt. Auch bei Verfassungsänderungen und internationalen Verträgen werden die Bürger nicht befragt, so auch nicht zur Wiedervereinigung oder zum EU-Vertrag von Nizza. Verfassungsrechtler sehen hier dringend Handlungsbedarf.

«Bei EU-Verträgen und neuen Beitrittsländern sollte die Bevölkerung abstimmen dürfen. Dann hätten wir manche Probleme heute nicht», sagt Jürgen Fock bei der Strassenumfrage.

«Bei EU-Verträgen und neuen Beitrittsländern sollte die Bevölkerung abstimmen dürfen. Dann hätten wir manche Probleme heute nicht.»

Das Grundgesetz beschränkt die Möglichkeiten des Volkes, seinen Willen zur Geltung zur bringen, auf das absolute Minimum, nämlich auf die Bundestagswahl alle vier Jahre. Dieses Misstrauen gegenüber der Bevölkerung resultiert aus den bitteren Erfahrungen der Weimarer Republik, als die Nationalsozialisten auf demokratischem Wege die Macht erlangt hatten.

«Aufgrund der schlechten Erfahrungen bin ich skeptisch. Und auch jetzt wäre die Bevölkerung nicht ganz gefeit gegen Rattenfänger», sagt der Passant Martin Meier bei der Umfrage.

Wachsende Beliebtheit in den Bundesländern

Was landesweit nicht möglich ist, geht zumindest auf Länderebene. Alle 16 Bundesländer geben ihren Bürgern die Möglichkeit, eine Initiative zu starten. Um diese in das Parlament zu bringen, wird ein sogenanntes Volksbegehren gestartet.

Im Mai diesen Jahres hat sich die grosse Mehrheit bei einem Volksentscheid in Berlin für den Erhalt des ehemaligen Tempelhofer FlughafenfeldesExterner Link als Park ausgesprochen. Der Berliner Senat wollte Teile des Areals für den Bau von Wohnungen und Gewerbe freigeben. Die Abstimmung fand zeitgleich mit der Europawahl statt, und das Quorum von 25 Prozent wurde erreicht.

2013 scheiterte die Initiative «Neue Energie für Berlin» nur knapp. Sie forderte die Wiederüberführung des Berliner Stromnetzes in kommunalen Besitz und die Gründung eines Stadtwerkes. Zwar stimmten über 83 Prozent Ja, jedoch wurde das Quorum mit 24,1 Prozent knapp verfehlt.

Dagegen war die Initiative «Rekommunalisierung der Hamburger Energienetze» im selben Jahr erfolgreich, wenn auch knapp. 50,9 Prozent der Abstimmenden stimmten mit Ja. Die Abstimmung fand zusammen mit der Bundestagswahl statt, und 68 Prozent der Wahlberechtigten beteiligten sich.

2011 wurde ein Gesetzentwurf zur Offenlegung der Teilprivatisierungsverträge bei den Berliner Wasserbetrieben (BWB) per Volksentscheid angenommen. Fast alle der Abstimmenden (98 Prozent) stimmten mit Ja, das Quorum wurde mit 27 Prozent erreicht.

2010 gewann die Hamburger Initiative «Wir wollen lernen!» im Volksentscheid. Sie setzte die teilweise Rücknahme einer vom Parlament beschlossenen Schulreform durch. Die Ja-Abstimmenden, 58 Prozent, machten zwar nur ca. 22 Prozent der Wahlberechtigten aus. Aber in Gegensatz zu allen anderen Bundesländern gibt es kein Quorum.

Ähnlich wie bei der Schweizer Volksinitiative müssen hierfür während einer bestimmten Frist Unterschriften gesammelt werden. Gelingt dies, muss sich das Landesparlament mit dem Vorschlag befassen. Lehnt es diesen ab, kommt es zum Volksentscheid, vergleichbar mit der Schweizer Volksabstimmung. Dabei darf nur über Themen entschieden werden, die in den Aufgabenbereich der Länder fallen. Die meisten Abstimmungen drehen sich um Schulpolitik, Verkehrsprojekte oder die kommunale Strom- und Wasserversorgung.

Trotz dieser Einschränkung erfreuen sich direktdemokratische Verfahren wachsender Beliebtheit. Ihre Anzahl hat in den letzten Jahren deutlich zugenommen. Laut dem Verein Mehr DemokratieExterner Link hat es in den deutschen Bundesländern seit 1966 84 Volksbegehren gegebenen, davon 53 seit der Jahrtausendwende. Aus diesen Volksbegehren resultierten zwischen 1968 und 2014  insgesamt 22 Abstimmungen, die meisten davon seit 2000.

«Auf regionaler Eben finde ich das gut. Bei den letzten Volksentscheiden habe ich immer mit abgestimmt“, sagt Sybille Heine aus Berlin.

Hohe Hürden bei der Initiative

Verglichen mit der Schweiz ist das ein sehr tiefes Niveau. Allein letztes Jahr wurden in vier eidgenössischen Volksabstimmungen über fünf Volksinitiativen und sechs Gesetze abgestimmt, plus die Vorlagen in den einzelnen Kantonen. Schuld an der geringen Anzahl der Abstimmungen in Deutschland sind die rechtlichen Hürden, die es zu überwinden gilt.

Diese betreffen laut einer Untersuchung des Professors Gebhard Kirchgässner von der Universität St. Gallen vor allem zwei Aspekte: Stimmenanzahl und Zeit. Denn, ob Initiativen überhaupt zustande kommen, hängt im Wesentlichen von der Zahl der erforderlichen Unterschriften sowie von der Zeit ab, die zum Sammeln zur Verfügung steht. Während in der Schweiz bei der bundesweiten Volksinitiative 100’000 Unterschriften, also etwa zwei Prozent der fünf Millionen Stimmberechtigen, in 18 Monaten gesammelt werden müssen, sind die Anforderungen in den deutschen Bundesländern um ein Vielfaches höher.

Die niedrigste Beteiligung wird bei Initiativen in Brandenburg verlangt. Dort müssen 80’000 Unterschriften (knapp vier Prozent der Stimmberechtigen) in vier Monaten zusammenkommen. Am anderen Ende rangiert Hessen, wo innerhalb von zwei Monaten 20 Prozent der Stimmberechtigen unterschreiben müssen.

Verschiedene Erfahrungen in den Bundesländern

Die Erfahrungen mit der direkten Demokratie ist in den Bundesländern also ganz unterschiedlich. Während Initiativen in Baden-Württemberg und im Saarland gar keine Rolle spielen, führen sie in anderen Bundesländern regelmässig zu Volksabstimmungen. Von den 22 Volksentscheiden wurden sieben in Hamburg, sechs in Bayern und fünf in Berlin abgehalten. Die Stadtstaaten haben vergleichsweise niedrige Hürden und eine aktive Bürgerschaft, Bayern ein lange direktdemokratische Tradition. Insgesamt hat es nur in sechs der 16 Bundesländer Volksabstimmungen gegeben.

Nicht nur der Weg zur Abstimmung ist deutlich schwieriger als in der Schweiz, auch bei der Abstimmung selber müssen noch Hürden überwunden werden. In fast allen Bundesländern, existieren Abstimmungsquoren. Das bedeutet, dass nicht nur die Mehrheit mit Ja stimmen muss, sondern dass die Anzahl der Ja-Stimmenden einen bestimmten Prozentsatz der wahlberechtigten Bevölkerung ausmachen muss, in der Regel 25 Prozent.

Ruf nach Reformen

Die hohen Quoten bei Initiative und Abstimmung stehen in der Kritik, weil sie eine aktivere Beteiligung der Bevölkerung verhinderten, so der Verein Mehr Demokratie. Einzelne Bundesländer haben deshalb in den letzten Jahren die Hürden gesenkt, wie zuletzt das Saarland 2013.

Und auch im Bund wird der Ruf nach mehr direkter Demokratie lauter. Bei den Koalitionsverhandlungen letztes Jahr haben sich sowohl SPD und CSU für Plebiszite auf Bundesebene stark gemacht. Die CDU steht diesen allerdings sehr skeptisch gegenüber und hat verhindert, dass die Vorschläge in den Koalitionsvertrag aufgenommen wurden. Da eine Reform einer Zwei-Drittel-Mehrheit im Bundestag bedarf, konnte sie bisher alle Vorschläge anderer Parteien erfolgreich abblocken.

Beispiel Bayern

Die lange direktdemokratische Tradition Bayerns geht auf die Schweiz zurück. Der erste bayerische Ministerpräsident nach dem Krieg, Wilhelm Hoegner, liess Volksinitiativen und Abstimmungen in die Verfassung schreiben. Er kannte sie aus der Schweiz, wo er elf Jahre im Exil lebte. Vielleicht wird auch Angela Merkel künftig häufiger in die Schweiz fahren?

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