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Der Gründer der zweitgrössten Bank als Antisemit

Pipilotti Rist Namensänderung
Die Künsterlin Pipilotti Rist überklebt den Namen des Raiffeisen-Gründers mit dem von Recha Sternbuch, die viele Menschen vor den Nationalsozialisten gerettet hat. Thomas Kern/swissinfo.ch

Eine Gruppe von Historiker:innen und die Künstlerin Pipilotti Rist wollen einen Platz in St. Gallen umbenennen, der nach dem Bankengründer F.W. Raiffeisen benannt ist. Sie werfen ihm Antisemitismus vor. 

Der Name “Raiffeisen” riecht nach Feldern, ehrlicher Arbeit und ländlicher Tradition. Das Logo der Bank zeigte in der Schweiz lange drei Ähren. Nach der Einverleibung der Credit Suisse durch die UBS ist die “Raiffeisen” die zweitgrösste Bankengruppe der Schweiz. 

Sogar als auskam, dass ihr langjähriger CEO Eskapaden in Rotlichtclubs auf Spesen bezahlte und er wegen Betrug und Veruntreuung verurteilt wurde, hörten die Kundenzahlen nicht zu steigen auf. 
 
Der scheinbar unverwüstliche Name der Bank steht aber in der Kritik: Denn der deutsche Gründer der Bank, der Sozialreformer Friedrich Wilhelm Raiffeisen, war nicht nur ein Wohltäter, sondern auch ein überzeugter Antisemit. Das macht eine neue Biografie deutlich.

Altes Schild Raiffeisen
Der deutsche Bankengründer hat sich in seinem Leben wiederholt antisemitisch geäussert. Thomas Kern/swissinfo.ch

Deshalb soll nun ein nach dem Bankengründer benannter Platz in der Stadt St. Gallen umbenennt werden, um die “Geschichtsvergessenheit” um die Positionen Raiffeisens zu beenden.

Das fordert eine Gruppe von Historiker:innen wie Stefan Keller, Politikern wie Paul Rechsteiner und Ausstellungsmacher:innen wie Hanno Loewy, Direktor des Jüdischen Museums Hohenems sowie die Künstlerin Pipilotti Rist. 

Stattdessen soll der Platz künftig nach der orthodoxen Jüdin Recha Sternbuch benannt werden, die ab 1938 Flüchtlingstransporte von Jüd:innen nach St. Gallen organisierte und später 1200 Jüd:innen aus dem KZ Theresienstadt in die Schweiz holte. 

Ein antisemitischer Wohltäter

Die Ursprünge der Raiffeisenkassen liegen, unüblich für eine Bank, auf dem Land. Im 19. Jahrhundert entstanden sie, um mittellose Bauerfamilien mit Krediten zu unterstützen. Sie liehen Geld für den Kauf von Saatgut, das man später zu moderaten Bedingungen zurückzahlen konnte. Der Leitspruch war “Alle für einen, einer für alle”, man traf sich regelmässig zu Mitgliederversammlungen im Dorf. Das blieb bis ins 20. Jahrhundert hinein so. 

Die Bank gehört auch heute nicht Aktionär:innen, sondern Genossenschaftler:innen – 2022 waren dies 2 Millionen Menschen in der Schweiz. Der erste Darlehenskasse-Verein in der Schweiz wurde 1899 im thurgauischen Bichelsee eröffnet. Heute gibt es hierzulande über 800 Raiffeisen-Filialen – zum Vergleich: Die UBS hat knapp 200.

Auch der Historiker Hans Fässler hielt der Bank 2018, als der Skandal um ihren Manager Pierin Vinzenz öffentlich wurde, ihren Gründer als Vorbild vor, an dem sie sich noch heute messen müsse. Er klebte auf das Schild auf dem St. Galler “Raiffeisenplatz” ein neues: “Friedrich Wilhelm Raiffeisen würde sich im Grab umdrehen, wenn er wüsste, was man aus seiner Bank gemacht hat.”

Fässler ist auch heute noch Kunde der Raiffeisen und seit kurzem Genossenschafter. “Die heutige Grundidee einer genossenschaftlichen Bank, die zudem keine Auslandengagements eingeht, halte ich nach wie vor für überzeugend.” Trotzdem möchte er heute das Schild gänzlich ändern.
 
Denn zu eng erscheint ihm als Historiker das Verhältnis der “genossenschaftlichen Idee der Selbsthilfe und der Solidarität zur fragwürdigen Absicht, den Juden, die man als gefährlich und betrügerisch ansah, die Finanzgeschäfte im ländlichen Raum aus den Händen zu nehmen.” Auch die Gründungszeit der Schweizer Raiffeisenbanken müsse diesbezüglich genauer angeschaut werden.

Bereits in den 1880er Jahren lobten Programmatiker des politischen Antisemitismus die Konsum- und Kreditgenossenschaften als angewandten, “praktischen Antisemitismus”, der weniger in der Theorie stecken blieb, sondern die angebliche Dominanz der Juden in Finanzgeschäften direkt angriff. 

Auch die Nationalsozialisten feierten Raiffeisen an seinem 50. Todestag 1938 als einen der ihren: “Er hat den jüdischen Wucherkapitalismus als erster bekämpft. Er hat das deutsche Bauerntum frei gemacht aus den Klauen der jüdischen Zinswucherer”, hiess es da.

Ein 2018 erschienenes Buch des Soziologen Wilhelm Kaltenborn zeigt, dass es sich dabei nicht nur um Vereinnahmung handelte. Raiffeisen sah zwar keinen Grund, die Juden zu töten oder ihnen ihre jungen Bürgerrechte zu entziehen, befand aber eine Ausschaffung nach Palästina für sinnvoll.

Denn auch er war der Ansicht, dass die Juden seit dem Mittelalter nach Herrschaft in Europa strebten. Er lobte die Vertreibung der Juden aus Spanien am Ende des 15. Jahrhunderts, weil ihnen sonst das Gold aus Amerika zugefallen wäre. So habe sich die Herausbildung einer “goldenen Internationalen” zumindest noch verzögert. Doch, davon war Raiffeisen überzeugt, die Jüd:innen kontrollierten die Presse, den Geld- und Viehmarkt und scheuten körperliche Arbeit.

Ein Sportplatz der Ideen

Ein grosser Teil des nach ihm benannten Platzes in St. Gallen wird von einem Kunstwerk von Pipilotti Rist eingenommen. Die 2005 gebaute Raumgestaltung “sieht aus, als hätte man ein Stück Stadt mit Kunststoffgranulat, wie man es von Sportplätzen kennt, überzogen.  

Ein Raum der städtischen Begegnung sollte es sein, auch der demokratischen Auseinandersetzung – ein Grund, weswegen Rist sich heute auch für eine Umbenennung des Platzes einsetzt:

 “Mir ist es wichtig, dass ich meinen Beitrag gebe, damit wir als Gesellschaft eine Erinnerungskultur pflegen. Dazu gehört für mich, mit dieser Umbenennung klar zu sagen: Ich will nicht, dass ein von mir gestalteter Platz mit einem Antisemiten in Verbindung gebracht wird.”

Recha Schild Pipilotti Rist
Das Zeichen ist gesetzt. Die versammelte Gruppe der Aktivisten unter dem neuen, provisorischen Schild. Hanno Loewy, Paul Rechsteiner, Batja P. Guggenheim-Ami, Pipilotti Rist, Hans Fässler und Stefan Keller (von l. nach r.) Thomas Kern/swissinfo.ch

Dazu kommt: Die Stadtlounge grenzt direkt an eine Synagoge. Sie wurde 1881 erbaut – im selben Jahr, in dem Friedrich Wilhelm Raiffeisen über die “Judenfrage” theoretisierte. 

Batja Guggenheim-Ami, ehemalige Co-Präsidentin der jüdischen Gemeinde St. Gallen, fordert deswegen ebenfalls seit 2021 eine Umbenennung des Platzes. Sie hatte dafür den 50. Todestag von Recha Sternbuch im Sinn. Die Stadt hat das Ansinnen aber bis heute nicht behandelt. 

“Die neue Namensnennung des Platzes wird für die jüdische Gemeinde in St. Gallen Verneigung und Dankbarkeit gegenüber Recha Sternbuch bedeuten. Ihr Gedenken wird Trost für diejenigen sein, die unter den unfassbaren Schrecknissen eines menschenverachtenden Gedankenguts während des Holocaust gelitten haben,” sagt Guggenheim-Ami. 

Retterin von Jüd:innen nahm grosse Risiken in Kauf

Recha Sternbuch wurde 1905 als Tochter eines orthodoxen Rabbiners in Polen geboren. Ab 1929 lebte sie in St. Gallen – ihr Mann Isaac Sternbuch, der in Basel Bürger war, führte hier ein Textilunternehmen. 1938 schliesst sich Österreich NS-Deutschland an und immer mehr geflüchtete Jüd:innen treffen an der Ostschweizer Grenze ein. Recha Sternbuch schmuggelt nun mit ihrem Auto regelmässig Geflüchtete über die Grenze, das Haus der Sternbuchs wird ein vorübergehendes Heim für sie. 

1939 wird Sternbuch wegen Schlepperei und ähnlicher Vergehen angeklagt. Doch sie lässt sich davon nicht beirren. Als das Paar nach Montreux zieht, gründen sie eine Hilfsorganisation, die weltweit Jüd:innen auf der Flucht unterstützt. 

Guggenheim-Ami meint dazu: “Sie hat mit unermüdlichem Mut und Vehemenz nach diesen grundlegenden ethischen Haltungen gelebt und gehandelt in der Zeit des Naziregimes, denn wie es im Judentum heisst: ‘Wer einen Menschen rettet, rettet eine ganze Welt’.”   

Die Raiffeisenbank meint auf Anfrage, die Kompetenz zur Benennung des Platzes unterliege dem öffentlichen und politischen Diskurs, die Entscheidung liege beim Stadtrat. “Doch als Platz, der in seinem Namen unsere Marke enthält, hat der Raiffeisenplatz für uns eine sehr grosse Bedeutung. Daher ist es uns ein Anliegen, dass sich der Stadtrat bei der Prüfung des Gesuches zur Umbenennung auf eine umfassende Analyse stützt.”

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