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Mit Adelstitel und Schweizer Pass im deutschen Parlament

Christian von Stetten, Freiherr und deutscher Parlamentarier mit Schweizer Pass. picture alliance

Das moderne Deutschland ist das einzige Land der Europäischen Union (EU), das auf nationaler Ebene noch nie eine Volksabstimmung durchgeführt hat. Die Christlich-Demokratische Union (CDU) als stärkste Partei hält die Bürger für noch nicht bereit dazu. Christian von Stetten, einflussreicher CDU-Politiker im deutschen Parlament und auch Schweizer Bürger, ist ein Fan der direkten Demokratie, setzt dieser aber klare Grenzen.

Er lebt in einem Schloss im Süden Deutschlands und führt einen Adelstitel in seinem Namen, der auf das Jahr 1098 zurückgeht: Christian Freiherr von StettenExterner Link.

Der 45-jährige Unternehmer wurde 2002 in den Bundestag gewählt, die Volkskammer des deutschen Parlaments. Dort ist er der einzige Schweizer Bürger, stammt doch seine Mutter aus dem südlichen Nachbarland.

Von Stetten bezeichnet sich als Verteidiger der direkten Demokratie. Auf nationaler Ebene aber kommt sie für ihn nicht in Frage. Obwohl er im folgenden Gespräch auch Schwächen der repräsentativen Demokratie einräumt, wie sie in Deutschland ausgeprägt ist.

swissinfo.ch: Wie stehen Sie als deutsch-schweizerischer Doppelbürger zur direkten Demokratie?

Christian von Stetten: Ich kenne selbstverständlich das System der Schweiz. Ich habe auch mehrere Jahre in der Schweiz über Initiativen und Referenden abgestimmt. Aber ich glaube nicht, dass sich dieses System auf Deutschland übertragen lässt.

Einmal sind wir viel grösser als die Schweiz. Dann haben wir Volksabstimmungen auf der Ebene der Bundesländer. Etwa in Baden-Württemberg, das ähnlich gross ist wie die Schweiz.

Aber diese Tradition gibt es auf nationaler Ebene nicht. Ich denke, dass die Bürger in der Schweiz das Stimmrecht viel verantwortungsvoller und –bewusster ausüben als jene in Deutschland. Trotzdem bin ich ein Verfechter der direkten Demokratie, insbesondere auf kommunaler Ebene.

swissinfo.ch: Aber sind Ihre Partei, die CDU, und die bayerische Schwesterpartei CSU nicht Gegner der direkten Demokratie?

C.v.S.: Nein, wir befürworten sie auf Ebene der Bundesländer und der Gemeinden. In jenen Bundesländern, in denen wir die Regierung stellen, sind die Bürgermeister direkt vom Volk gewählt, was in vielen anderen Bundesländern nicht der Fall ist.

Das Problem sehen wir darin, dass wir in ganz konkreten Fragen die nötige Erfahrung nicht haben. Wenn jemand in Deutschland beispielsweise nach einem Mord an einem Kind die Wiedereinführung der Todesstrafe fordert, hätten wir schnell eine Mehrheit für diese Massnahme. Dies erklärt die Zweifel an einem möglichen Transfer dieses Schweizer Systems nach Deutschland.

swissinfo.ch: Die CDU sagt, das Volk könne auf komplexe Fragen wie die Rettung des Euro oder die europäische Verfassung nicht einfach mit Ja oder Nein antworten. Kann die direkte Demokratie also keine Lösung für grundlegende Fragen und Probleme sein?

C.v.S.: Ich bin überzeugt, dass derart komplexe Themen nur vom Parlament behandelt werden können. Wir leben in einer repräsentativen Demokratie, in der sich die Parlamentarier monatelang in ein Dossier vertiefen. Für die einfachen Bürger wäre es schwierig, sich zu einer derart komplexen Sache zu äussern. Es gibt aber durchaus Fragen, zu denen das Volk Stellung nehmen kann.

Christian Freiherr von Stetten

1970 in Stuttgart geboren.

Studium der Unternehmensführung in Mannheim. 1994 Start seiner Karriere als Unternehmer. Heute besitzt von Stetten deren drei – sie sind in den Bereichen Bau, Ticketverkauf und Eventorganisation aktiv.  

1986 war er bei der jungen CDU in die Politik eingestiegen. Seit 2002 ist er für diese Partei Mitglied des Bundestags (grosse Kammer des deutschen Parlaments).

Von Stetten ist Mitglied im Vorstand der Bundestagsfraktion von CDU/CSU und präsidiert den Wirtschaftsrat der CDU für kleinere und mittlere UnternehmenExterner Link. Diese ist mit 187 Mitgliedern die grösste Interessensgruppe der Union.

swissinfo.ch: Einige Experten führen den Interessensschwund für die Politik und das wachsende Misstrauen gegenüber deren Institutionen auf ein Gefühl der Bürger zurück, dass sie sich nicht am Entscheidungsprozess beteiligen könnten.

C.v.S.: Dieses Argument ist falsch. Der grösste Teil der Initiativen, die vors Volk kommen, scheitern nicht an dessen Nein, sondern weil das erforderliche Quorum nicht erreicht wurde (d. h. die erforderliche Mindestbeteiligung, die Red.). Wir haben Abstimmungen, an denen sich nur 10% oder 20% der Wähler beteiligen. Die Beteiligung an Wahlen dagegen, etwa die Parlamentswahlen, ist viel wichtiger.

swissinfo.ch: Für die direkte Demokratie gibt es in Deutschland viele Hürden. Aber was genau hindert das Land, ein ähnliches System wie jenes der Schweiz zu übernehmen?

C.v.S.: Die Schweiz verfügt über eine fantastische Erfahrung und geht mit ihrer direkten Demokratie auch sehr verantwortungsbewusst um. Diese funktioniert in einem Land wie der Schweiz sehr gut. Sie verfügt über eine föderale Struktur, die in kleineren Einheiten organisiert ist, den Kantonen. Dort muss eine überschaubare Anzahl Personen informiert werden. In Deutschland mit seinen 80 Millionen Einwohnern ist das schwieriger. Das ist auch eine Kostenfrage, man denke nur daran, wie viel Geld die Schweiz dafür aufbringen muss, damit die Informationen zu den Bürgern gelangen.

Persönlich habe ich grosse Sympathie für dieses System, weil es eine Annäherung an den Bürger bringt. Aber die Schweiz verfügt weder über eine Regierung wie die unsrige noch über ein Oppositionssystem.

swissinfo.ch: Mehrere jüngst von Schweizer Stimmbürgern angenommene Initiativen führen vor Augen, wie schwierig Volksentscheide bisweilen umsetzbar sind. Etwa das Minarett-Verbot (2009), die Ausschaffung ausländischer Straftäter oder die Begrenzung der Zuwanderung mittels Kontingenten von 2014. Wie sehen Sie diese Entwicklung?

C.v.S.: Ich kenne diese Abstimmungsresultate und akzeptiere sie. Merkwürdigerweise sind es aber genau jene Exponenten, die sich für die Einführung der direkten Demokratie in Deutschland stark machen, die dann die Ergebnisse dieser Volksvoten kritisieren. Auch in Deutschland besteht das Risiko einer Abstimmung über ein Verbot von Minaretten und gar über einen Einwanderungs-Stopp. Ich habe Sympathien für die Abstimmungen, aber man muss auch deren Resultate akzeptieren. Es geht nicht an, aus Publizitätsgründen die direkte Demokratie in Deutschland zu fordern und dann in jenen Ländern mit direkter Demokratie die Resultate kritisieren, weil sie uns nicht in den Kram passen.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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