Die grossen alten Damen der Belle Epoque

Seit einem Jahrhundert befahren stolze Raddampfer die Schweizer Seen. Sie sind mehr als reine Transportmittel, sie gehören zum eigentlichen Kulturerbe.
Alle lieben den Charme der alten Damen. Ihr Unterhalt ist allerdings nicht billig.
«Ein solches Schiff muss man mit Feingefühl behandeln.» Vor dem riesigen Rumpf der «La Suisse» kommt Jean-Marc Naucelle ins Träumen. Naucelle ist für das Lifting verantwortlich, das man dem Flaggschiff der «Compagnie générale de navigation sur le Lac Léman» (CGN) angedeihen lässt.
Das Monstrum verharrt etwas eingeklemmt im Trockendock des Hafens von Lausanne-Ouchy, was seine beeindruckenden Ausmasse noch stärker zur Geltung bringt: 78 Meter Länge, 15 Meter Breite, Platz für 1200 Personen.
«Bei der Überprüfung des allgemeinenen Zustands des Rumpfs kamen keine grösseren Überraschungen zum Vorschein», so Naucelle. «Das Blech ist aber nicht sehr dick (6 mm). Es ist klar, dass ein solches Schiff schon lange verrostet wäre, wenn es das Meer befahren würde.»
Eine Zürcher Geschichte
Wie die anderen elf zwischen 1904 und 1927 von der CGN bestellten Schiffe kam die «La Suisse» aus den Werkhallen von Sulzer in Winterthur.
Zusammen mit der Zürcher Firma Escher-Wyss lieferte dieses Unternehmen fast alle Schiffe, die noch heute nicht nur die Schweizer Seen, sondern auch die Rhone, den Rhein, die Donau und die italienischen und savoyischen Seen befahren.
Die beiden Schaufelräder, die den Schiffen ihre charakteristische Silhouette geben, sind nicht nur Antriebs-Elemente, sondern auch für die Stabilität wichtig.
Wie die meisten ihrer Schwesterschiffe hat die «La Suisse» praktisch einen flachen Bauch, einen winzigen Kiel und weniger als zwei Meter Tiefgang.
Thun, Brienz, Konstanz, Zürich
Die Schweiz hat mit acht Schiffen auf dem Genfersee, fünf auf dem Vierwaldstättersee, zwei auf dem Thuner- und Brienzersee, einem auf dem Bodensee und zwei auf dem Zürichsee ausserordentlich viele Schiffe aus der Belle Epoque.
Die Flotte ist gar einmalig auf der ganzen Welt. Zu ihr zählt auch die winzige «DS Greif» (22 Passagiere), die für Vergnügungs-Fahrten auf dem Greifensee in der Nähe von Zürich gemietet werden kann. Sie wurde 1895 gebaut und gilt als das älteste Dampfschiff der Schweiz.
Vorherrschende Moderne
Es war eher der relativen Armut als dem Willen ihrer Leiter zuzuschreiben, dass die helvetischen Schifffahrtgesellschaften des letzten Jahrhunderts diese kostbaren Zeugen der Belle Epoque nicht verschrotten liessen.
«Die CGN arbeitete bis in die 20er-Jahre mit Gewinn», erklärt Didier Zuchuat, Sekretär der «Association Patrimoine du Léman» (APL). «Als binationale Gesellschaft erhielt sie nie etwas vom Staat, bis für die Landesausstellung 1964 neue Schiffe gebaut werden mussten.»
Damals litten die Raddampfer unter der Begeisterung für alles Moderne. Man fügte ihnen zeitgenössische Elemente bei und verfälschte sie damit nach und nach.
So ersetzte die CGN in den 50er-Jahren die schönen Dampfschiffe durch drei Schiffe mit Dieselmotoren.
Wichtig für Tourismus und als Kulturerbe
Gegen Ende des 20. Jahrhunderts jedoch kehrte der Wind: 1999 setzte die APL durch, dass einige Raddampfer der CGN ins Inventar des Heimatschutzes aufgenommen wurden.
«Alle Anrainer des Genfersees sehen diese Schiffe gern», so Zuchuat. «Und niemand, weder die Einheimischen noch die Touristen, kann sich ernsthaft vorstellen, dass sie verschwinden.»
Die drei Kantone Waadt, Wallis und Genf haben das verstanden und übernehmen ab jetzt mit jährlich rund fünf Millionen Franken einen Viertel der Kosten der CGN.
«Wenn wir auf die Raddampfer verzichteten, käme das natürlich billiger zu stehen», erklärt CGN-Direktor Luc-Antoine Baehni. «Aber unsere Funktion ist es nicht nur, Passagiere zu befördern. Wir spielen auch eine Rolle im Tourismus und im Kulturerbe.»
Dringlichkeit
Trotzdem ist die helvetische Dampfschiffflotte noch auf zusätzliche Unterstützung angewiesen.
Abgesehen von der «Montreux», die 1998 vollständig rekonstruiert wurde und dabei ihren Dampfantrieb wieder erhielt, hätten die Schiffe der CGN in ihrem jetzigen Zustand im besten Falle vielleicht noch dreissig Jahre zu leben.
Auf den anderen Schweizer Seen ist die Situation kaum besser. So sollten die «Stadt Zürich» und die «Stadt Rapperswil» auf dem Zürichsee dringend renoviert werden. Und das einzige Dampfschiff auf dem Bodensee wird nur noch für private Vergnügungsfahrten eingesetzt.
Da ist die Unterstützung der APL oder der kürzlich gegründeten Vereinigung «Amis des bateaux à vapeur du Léman» (Freunde der Dampfschiffe auf dem Genfersee) natürlich willkommen.
Zeitgenossen der «Titanic»
Sie wollen diese schwimmenden Zeugen der Vergangenheit nicht nur retten, sondern ihnen auch einen Teil ihres alten Glanzes zurückgeben.
Als Zeitgenossen der «Titanic» waren diese Schiffe schwimmende Paläste, mit reich möblierten, mit Holz verkleideten Salons, dekoriert mit eleganten Galionsfiguren auf Bug und Heck.
Und genau diese verschwundenen Skulpturen hat die APL der «La Suisse» nun zurückgegeben. Den Auftrag dazu gab die Vereinigung einem bretonischen Künstler, einem der letzten «See-Bildhauer».
Er rekonstruierte aufgrund von Archivfotos die Figuren und verzierte sie mit Blattgold.
Für die in Kürze beginnende Saison hat das stolze Schiff auch ein Rettungsboot mitsamt einem (fast) originalen Ladebaum erhalten.
Obwohl die Betriebskosten etwa doppelt so hoch sind wie bei einem modernen Schiff mit Schiffsschrauben, dürften die grossen alten Damen der Belle Epoque noch ein paar schöne Jahre vor sich haben.
swissinfo, Marc-André Miserez
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
Die 19 Schiffe, die in der Schweiz noch im Dienst stehen, machen gut einen Viertel aller weltweit noch fahrender Raddampfer aus.
Die meisten Dampfschiffe auf den Seen im Alpenbogen-Raum und auf dem Rhein wurden Ende des 19. und Anfang des 20. Jahrhundert von den Zürcher Unternehmen Sulzer und Escher-Wyss gebaut.
Die grösste Flotte (acht Schiffe) ist jene auf dem Genfersee, die nun ins Inventar des Heimatschutzes aufgenommen wurde.
Betrieb und Unterhalt dieser Schiffe sind teuer, es braucht daher die Unterstützung durch Behörden und private Spender.
Dank ihrer Präsenz wird die Schifffahrt auf den Schweizer Seen attraktiver, für ausländische ebenso wie für einheimische Reisende.

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