Vom Bündner Schnee ins arktische Eis

Achille Capelli hat in Alaska ein grosses Freiluftlabor gefunden. Der Schweizer Forscher untersucht das Polareis und beobachtet voller Sorge die Folgen des Klimawandels. Im Gegensatz zu anderen Schweizer Forschenden ist er von den Budgetkürzungen der Trump-Administration nicht betroffen. Grund: Seine Forschung betrifft auch die USA.
Über der Stadt Fairbanks in Alaska schneit es heftig. Es ist Mitte April, und der Winter zeigt sich nochmals von seiner heftigen Seite, bevor er dem Frühling Platz macht.
Achille Capelli sitzt in seinem Büro am Geophysikalischen Institut der Universität von Alaska. Seit vier Jahren lebt der aus dem Kanton Graubünden stammende Wissenschaftler im 49. Bundesstaat der Vereinigten Staaten von Amerika.
«Mit dem Beginn des Frühlings schmilzt der Schnee und die Temperaturen steigen rapide an», erzählt er während eines Videoanrufs. In Alaska ist es acht Uhr morgens, in der Schweiz 18 Uhr abends. «Der Sommer ist hier sogar wärmer als in Davos, weil die Sonne nie untergeht, auch nicht nachts», sagt Capelli.

Warmer Empfang im arktischen Frost
Zwischen Dezember und Januar ist es jedoch fast immer Nacht. Es gibt nur wenige Stunden Tageslicht. In dieser Jahreszeit können die Temperaturen teilweise bis auf -45 Grad Celsius absinken. Trotzdem hat Capelli seine Gewohnheiten nicht umgestellt.
«In der Schweiz bin ich immer mit dem Velo zur Arbeit gefahren, diese Gewohnheit habe ich auch hier beibehalten, zumal ich nicht unweit der Universität wohne», sagt der 37-Jährige. «Ich muss mich nur richtig warm anziehen, wenn ich nicht mit Frostbeulen an den Händen oder einem vereisten Bart ankommen will.»
Der Postdoktorand wohnt in einem Vorort von Fairbanks, der zweitgrössten Stadt Alaskas nach Anchorage. Sie zählt mitsamt Agglomeration fast 100’000 Einwohner:innen.
«Ich wohne in einer ‹dry cabin›, einer Trockenhütte [wörtlich: Trockenkabine], einem Mini-Haus ohne Wasser- und Abwassersystem, denn im Winter würde das Wasser in den Leitungen einfrieren», sagt er.
Deshalb macht er sich alle zwei Wochen mit dem Auto auf den Weg, um ein paar Kanister Wasser zu füllen, damit er immer einen Vorrat zu Hause hat.

Mehr
Alles zum Thema «Wissenschaft»
Die schwierigen klimatischen Bedingungen in Alaska scheinen nicht nur die Lebensumstände, sondern auch den Charakter der Einwohner:innen geprägt zu haben.
«Die Tatsache, dass die Umwelt so lebensfeindlich ist, hat die Menschen sehr hilfsbereit und gastfreundlich gemacht», sagt Capelli. «Obwohl Fairbanks eine relativ grosse Stadt ist, habe ich den Eindruck, in einer kleinen Gemeinschaft zu leben: offen, hilfsbereit und neugierig auf diejenigen, die von aussen kommen.»
Das ist ein Kontrast zu seinen Erfahrungen in der Heimat. «In der Deutschschweiz gibt es eine grosse Zurückhaltung, wenn es darum geht, mit Menschen aus einer anderen Sprachregion in Kontakt zu treten. Hier hingegen ist es erstaunlich einfach, neue Freundschaften zu knüpfen», erzählt er.
Forschung im Dienst lokaler Gemeinschaften
So fiel es dem Bündner Wissenschaftler leicht, sich in Fairbanks einzuleben. Dies lag aber natürlich auch daran, dass Schnee und Eis im Fokus seiner Forschungstätigkeit stehen.
Am Institut für Schnee- und Lawinenforschung in DavosExterner Link untersuchte er die Mechanismen, welche die Schneedecke und die Lawinenbildung regulieren.
Darüber hinaus versuchte er, mit Hilfe von akustischen Experimenten die Signale zu erkennen und zu verstehen, die einen möglichen Lawinenabgang ankündigen.
Nach seiner Promotion an der ETH Zürich suchte Capelli eine neue berufliche Herausforderung. Im Jahr 2020 bewarb er sich für ein Postdoc-Projekt an der University of Alaska.
«Die Forschung über Meereis war nicht gerade mein Spezialgebiet, aber ich sagte mir, warum nicht», erzählt Capelli, der im Puschlav aufgewachsen ist, einem italienischsprachigen Tal im Kanton Graubünden.
«Was mich auch reizte, war die Tatsache, dass es sich beim Projekt nicht nur um Grundlagenforschung, sondern auch um praktische Anwendungen handelte.»
Mit unserer App SWIplus erhalten Sie täglich die wichtigsten Nachrichten aus der Schweiz kompakt zusammengefasst, dazu die Top-Nachrichtensendungen von SRF wie die Tagesschau und das Echo der Zeit sowie sämtliche Berichte über die Entwicklungen in Ihrem Wunschkanton. Erfahren Sie hier mehr über die App.
Das Ziel des Forschungsprojekts ist die Entwicklung eines elektromagnetischen Systems, das auf Drohnen installiert wird, um die Dicke von Schnee und Meereis in der Arktis zu messen.
«Es gibt Instrumente, die an Land gut funktionieren, und andere, die auf Helikoptern oder grossen Flugzeugen montiert werden können. Aber es fehlte eine Zwischenlösung, das heisst Instrumente, die von einer Drohne transportiert werden können», erklärt Capelli.
Ursprünglich war der Einsatz von Langstreckendrohnen geplant, doch angesichts der Grenzen der verfügbaren Technologien musste das Forschungsteam seinen Ansatz ändern. Daher kamen kleinere Multirotordrohnen zum Einsatz.
Die Arktis ist die Grossregion auf der Erde, die sich durch den globalen Klimawandel am stärksten erwärmt. Die Fläche der arktischen Eiskappe ist zwischen 1979 und 2021 um 13% geschrumpftExterner Link (gemessen am Ende des Sommers).
Das Schmelzen wird durch die globale Erwärmung verursacht, was an diesem Ort einen «arktischen Verstärkungseffekt» auslöst. Das heisst: Durch die Erwärmung der Atmosphäre kommt es zum Abschmelzen von Eis auf dem Ozean und Schneeflächen auf dem Land.
Dadurch werden die dunkleren Wasser- und Landflächen frei, deren Albedo (Rückstrahlung)Externer Link deutlich geringer ist als die von Schnee und Eis. So kommt es zu einem Teufelskreislauf.
Das Schmelzen des arktischen Eises trägt zum Anstieg der Meere bei und verschärft den Klimawandel noch weiter. Durch das Auftauen des Permafrosts werden Kohlendioxid und Methan, zwei starke Treibhausgase, in die Atmosphäre freigesetzt.
Dieser Bericht der italienischsprachigen «Radiotelevisione svizzera di lingua italiana» RSIExterner Link zeigt auf, warum uns die Erwärmung der Arktis nicht kalt lassen sollte.
Die Eisscholle: Eine instabile, aber lebenswichtige Plattform
«Die erste Phase des Projekts ist abgeschlossen. Wir führen jetzt neue Studien durch, um das System weiter zu perfektionieren», sagt Capelli.
Derzeit arbeiten er und sein Forschungsteam an einer praktischen Anwendung: Der Messung der Dicke der Eisscholle, das heisst von schwimmendem Meereis, das sich im Winter in Küstennähe bildet und bis zum Frühjahr mit dem Festland verbunden ist.
«Es handelt sich um eine Art natürliche Plattform, die es den hiesigen Gemeinschaften seit Jahrhunderten ermöglicht hat, sich fortzubewegen, zu jagen und Waren zu transportieren», sagt Capelli. «Aber die Oberfläche verändert sich ständig: Sie kann zu dünn und damit gefährlich werden.»
Die Erforschung der Eisdicke ist auch aus logistischen Gründen wichtig: In vielen Gebieten der Arktis können Schiffe wegen der geringen Tiefe des Meeresbodens nicht direkt an der Küste anlegen.
«Im Winter oder im Frühjahr wird das Schelfeis genutzt, um Menschen, Fahrzeuge oder Waren zu entladen und zu transportieren. Deshalb ist die Kenntnis der Eisdicke entscheidend», so Capelli weiter.
Die arktischen Regionen stossen auf zunehmendes internationales Interesse. Ein Wettlauf in den hohen Norden der Erde birgt jedoch auch Risiken:

Mehr
Die Schweiz und die Arktis: Näher als man glaubt
Auch für das US-Verteidigungsministerium handelt es sich um entscheidende Informationen, denn Alaska ist von zunehmender geostrategischer Bedeutung und beherbergt mehrere Militärstützpunkte. Daher sollte dieser Forschungsbereich von den Kürzungen der Trump-Administration verschont bleiben.
Der Bündner Forscher nahm im Februar beispielsweise an einem Einsatz der US Navy teil. «Unsere Aufgabe war es, die Dicke des Eises zu beurteilen, um die geeignetsten Gebiete für ein provisorisches Lager zu identifizieren», sagt er.

Auftauender Permafrost: Zehn Meter Erosion pro Jahr
«Der Klimawandel verändert Alaska erheblich», stellt Capelli fest. In Utqiaġvik zum Beispiel, der nördlichsten Stadt Alaskas und damit der USA, besteht der Untergrund aus feinen Sedimenten, die durch den Permafrost zusammengehalten werden.
Wenn dieser Untergrund verschwindet, ist die Küste den Wellen des Meeres ausgeliefert. Dies kann zu einer Erosion von bis zu zehn Metern pro Jahr führen.
«Einige Gemeinschaften wissen bereits, dass sie ihre Dörfer aufgeben und Hunderte von Kilometern ins Landesinnere ziehen müssen. Ihre Existenz ist in Gefahr», sagt Capelli.
«Das Auftauen des Permafrosts hat erhebliche Auswirkungen auf das Leben der indigenen Gemeinschaften in der Arktis. Seit Jahrtausenden nutzen sie das Schelfeis, um Robben, Wale und andere Meerestiere zu jagen, aber seine Instabilität macht den Zugang zu lebenswichtigen Ressourcen zunehmend problematisch.»
Das Auftauen des Permafrosts könnte den globalen Klimawandel beschleunigen. Was Sie über die Permafrostforschung in der Schweiz und auf der ganzen Welt wissen müssen:

Mehr
Klimawandel: Wo steht die Forschung zum Permafrost in der Schweiz?
Auch die Stadt Fairbanks ruht auf Permafrost. «Von der Strasse lassen sich Häuser beobachten, die sichtbar absinken», erzählt Capelli, der von Alaska aus auch voller Sorgen die Naturkatastrophen verfolgt hat, die 2024 verschiedene Regionen der Schweiz betrafen.
Apropos Schweiz. Aus Tausenden von Kilometern Entfernung hat der Bündner Forscher gelernt, sein Heimatland mit neuen Augen zu sehen: «Von hier aus schätze ich unser demokratisches System und seine Stabilität noch mehr.»
Neben den politischen Debatten und der Suche nach Kompromissen vermisst er auch die gastronomischen Köstlichkeiten seiner Heimat: Käse, hausgemachte Wurst und generell die Küche des Puschlav.
In Alaska kann er jedoch anderen Leidenschaften nachgehen, wie langen Spaziergängen in der Wildnis, Kajakfahrten auf Wildbächen oder der Karibu-Jagd.
Editiert von Samuel Jaberg, Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob/raf

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch