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Am Anfang war das Wort

Raumprojektion "Begriffssuppe" von Matthias Rohrbach und Michael Flückiger. BN

Nach dem Wort folgen die Sätze, dann die Seiten und am Ende die Lexika-Bände - ein arbeitsintensiver Prozess. Den Weg von der Entstehung einer Enzyklopädie bis ins Buchregal zeigt die Ausstellung "Am Anfang war das Wort - Lexika in der Schweiz".

Wie entsteht ein Lexikon? Diese Frage hat sich die Schweizerische Nationalbibliothek (NB) gestellt und sie gleich, in Zusammenarbeit mit dem Historischen Lexikon der Schweiz (HLS), selber beantwortet – mit einer Ausstellung.

Das Ende der 1980er-Jahre geborene HLS ist das letzte enzyklopädische Grossprojekt der Schweiz.

Die Wurzeln der enzyklopädischen Tradition reichen bis ins Mittelalter zurück, gehen dann weiter ins 17. Jahrhundert, als die Eidgenossenschaft bereits ein richtiger Staat war, und blühen Ende 17. Jahrhundert auf – dank dem Antrieb der Enzyklopädien von Diderot und D’Alambert.

Das Alphabet

Ob einem spezifischen (wie das HLS) oder universalen Thema gewidmet (wie die zwischen 1770 und 1780 publizierte Enzyklopädie von Yverdon), das Sammeln von Wissen ist ein alphabetisches Verlinken von Informationen und Konzepten.

“Die alphabetische Ordnung scheint einem natürlichen Bedürfnis zu entsprechen”, sagt HLS-Chefredaktor Marco Jorio gegenüber swissinfo. “Ein Bedürfnis, das auch in der heutigen enzyklopädischen Kunst weiterhin berücksichtigt wird wie bei Wikipedia oder Encarta.”

Das Beispiel Ruth Dreifuss

Die Ausstellung in der Nationalbibliothek in Bern zeigt aber weniger die Geschichte der Enzyklopädien als viel mehr das Geschehen hinter den Kulissen bei der Entstehung eines Lexikons – etwas, das Leserinnen und Leser üblicherweise nicht sehen.

Dazu haben die Kuratoren ein einziges Beispiel für das HLS ausgewählt: Ruth Dreifuss. Die Wahl der ehemaligen sozialdemokratischen Bundesrätin erfolgte nicht zufällig: Als Innenministerin war Ruth Dreifuss verantwortlich für die Schweizerische Nationalbibliothek und Mutter des HLS.

Am Anfang steht also das Wort Ruth Dreifuss. Dann folgen die verschiedenen Versionen eigener Aussagen der Ex-Bundesrätin, Antworten darauf, wieder Schlüsselzitate von Dreifuss, die alle den Weg der Innenministerin aufzeigen (Judentum, Frauenbewegung, Genf, AHV).

Durch das Ausstellen von gesammelten Objekten, die in Zusammenhang mit den Schlüsselworten der Ex-Bundesrätin stehen, kommt eine weitere Dimension dazu, die in Lexika nicht zu finden ist.

Die Ausstellung zeigt zum Beispiel die legendäre Sonnenbrosche, die Ruth Dreifuss am Tag ihrer Wahl zur Bundesrätin trug. Jene Brosche, die im kollektiven Gedächtnis einer ganzen Generation von Schweizerinnen und Schweizern geblieben ist.

Protagonisten-Kritik an HLS-Redaktion

An der Berner Ausstellung kommen auf Videos die Protagonisten zu Wort. Darunter auch wieder Ruth Dreifuss, die HLS-Chefredaktor Marco Jorio wissen lässt, dass sie überhaupt nicht zufrieden sei mit dem Text über sie.

“Eine verbreitete Reaktion bei noch lebenden Personen, die in einem Lexikon vorkommen”, sagt Jorio. Der Ex-Bundesrätin passte vor allem der Satz “Tochter von Sidney, Kaufmann” nicht.

“Sie sagte, sie sei nicht nur die Tochter ihres Vaters, sie habe auch eine Mutter”, erinnert sich Jorio. “Das Auslassen der Mutter war aber kein bewusster Entscheid der HLS-Redaktion. Es war schlicht ein Fehler, den wir in der nächsten Ausgabe korrigieren werden.”

Wer einen Artikel für das HLS schreibe, sei nicht immer ein wandelndes Lexikon oder ein Allwissender. “Natürlich werden Recherchen gemacht, aber manchmal hat der Autor bis Redaktionsschluss einfach zu wenig Zeit, um alles genau abzuklären – wie das bei Journalisten vorkommt”, so Jorio.

Vom Baum zum Wurzelstock

Das HLS, wie ein grosser Teil der Lexika in Buchform, ist klar strukturiert nach der guten alten Metapher des Baumes. Mit dem Erscheinen von elektronischen Lexika, vor allem Wikipedia, setzt sich eine neue Art der Wissensvermittlung durch.

Die Metapher bleibt zwar im botanischen Bereich, aber man spricht nicht mehr von Baum, sondern von Wurzelstock. Der Bezug auf den unterirdischen Teil einiger Pflanzen zeigt das Fehlen von Eingangs- oder klar definierten Ausgangspunkten: Die Konzepte basieren nicht mehr auf internen, festgesetzten Hierarchien.

Auch das HLS hat eine elektronische Version, “aber Konzept, Struktur und Präsentation bleiben gleich wie bei einem gedruckten Buch”, sagt Jorio. “Wir haben mit unserer Arbeit am Ende der Ära Gutenberg begonnen und haben uns wohlweislich auf das elektronische Zeitalter vorbereitet. So gelang es uns 1995, als das Internet kam, sofort aufs Netz zu gehen.”

In Zukunft müsse man nun das enzyklopädische Konzept dieser neuen Form von Kommunikation anpassen, erklärt Jorio. “Keine Kürzungen mehr, sondern Vertiefung. Im Internet gibt es kein Raumproblem.”

Der Erfolg von Wikipedia werde nicht zum Verschwinden von traditionellen enzyklopädischen Projekten führen, ist Jorio überzeugt. Die “Wikipedisten” würden in gewissen Bereichen sogar überflüssige Arbeit leisten.

Dazu müsse man nur das Schicksal eines HLS-Artikels auf Wikipedia verfolgen: Innerhalb von eineinhalb Jahren habe dieser über hundert Änderungen erlebt, aber fast alle davon seien rein formeller Natur gewesen.

swissinfo, Doris Lucini
(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

“Am Anfang ist das Wort – Lexika in der Schweiz” in der Schweizerischen Nationalbibliothek in Bern ist bis 29. März 2009 zu sehen.

Die Ausstellung geht von einem konkreten Artikel über die ehemalige Bundesrätin Ruth Dreifuss im Historischen Lexikon der Schweiz (HLS) aus und soll aufzeigen, wie Lexika erarbeitet und Informationen miteinander vernetzt werden. Zudem wirft sie den Scheinwerfer auf die Menschen “hinter den Lexika”.

Einen künstlerisch-poetischen Zugang zum Theam bildet die eigens für die Ausstellung realisierte Installation “Vedi alla voce Enciclopedia” des Tessiner Künstlerduos Matteo Terzaghi und Marco Zürcher. Zudem gibt es die Ausstellungspublikation “Wort. Am Anfang ist das”.

Das HLS ist das grösste wissenschaftliche Nachschlagewerk unseres Landes, das die Geschichte auf dem Gebiet der heutigen Schweiz von der Urgeschichte bis zur Gegenwart in allgemein verständlicher Form darlegt.

Es ist das weltweit einzige wissenschaftliche Lexikon, das gleichzeitig in drei Sprachen erscheint, nämlich in den Schweizer Landessprachen Deutsch, Französisch und Italienisch (eine eingeschränkte Version sogar auf Rätoromanisch).

Das gedruckte HLS bietet zusätzlich zu den Artikeltexten erläuterndes Bildmaterial, darunter eigens von der HLS-Bildredaktion erstellte Grafiken und Karten, die historische Sachverhalte auf neuartige und anschauliche Art darstellen. Das HLS wird ebenfalls als elektronische Datenbank unter dem Namen e-HLS publiziert.

1988 begann das Projekt HLS, 2014 soll es mit dem letzten, 13. Band abgeschlossen werden.

Vollamtlich arbeiten am HLS 40 Personen. Dazu kommen über 2500 freie Autorinnen und Autoren sowie 100 wissenschaftliche Berater und 75 Übersetzer.

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