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Denkmaltag: Nachher ist immer auch vorher

Gelungenes Nebeneinander von Alt und Neu: Bahnhofstrasse in Aarau. (Foto: Dominik Golob) Dominik Golob

Im September öffnen erneut über 200 Schweizer Denkmäler die Tore für das Publikum. Der Denkmaltag ist Bauten gewidmet, die Alt und Neu vereinigen.

Warum das Bauen im historischen Kontext gerade heute aktuell ist, erklärt die Kunsthistorikerin Cordula Kessler im Gespräch mit swissinfo.

Die 1984 in Frankreich als “Journée Portes ouvertes Monuments historiques” initiierte Aktion wurde 1991 vom Europarat übernommen und als Europäischer Tag des Denkmals lanciert.

Seither werden in ganz Europa jedes Jahr an einem Wochenende im September Baudenkmäler und Kulturgüter, die normalerweise nicht zugänglich sind, für das Publikum geöffnet. In der Schweiz fand der Denkmaltag erstmals 1994 statt.

swissinfo: Der diesjährige Tag des Denkmals steht unter dem Motto “pflegen, umnutzen und weiterbauen im historischen Kontext”. Warum wurde dieses Thema gewählt?

Cordula Kessler: Zum einen weil in den letzten Jahren die Zahl der Bauvorhaben, die sich mit bestehenden Bauten beschäftigen, stetig angestiegen ist. In der Schweiz machen sie heute rund 60% aller Bauprojekte aus.

Zum anderen wird das Thema in Architektur-Zeitschriften, Tagungen und Büchern momentan rege debattiert. In den letzten Jahren hat die Umnutzung und das Umbauen von Gebäuden die Neubau-Euphorie der Nachkriegszeit abgelöst.

Diese Entwicklung ist auf den raschen, tief greifenden Strukturwandel in der Landwirtschaft und in der Industrie zurückzuführen. Dieser hatte unter anderem dazu geführt, dass viele Industriebrachen entstanden sind, bei denen man sich heute fragt, was man damit anstellen soll.

Durch die Entwicklung hin zur Dienstleistungs-Gesellschaft gewann das Bauen im Bestand in den letzten Jahren an Aktualität und auch an Ansehen.

Lange hielten die Architekten das Um- und Weiterbauen für eine Strafaufgabe. Heute finden es viele spannend. Sie sagen, eine Reibung am Bestand würde ihnen einen Leitfaden geben. Das neue Objekt, das daraus entstünde, habe viel mehr Charme als ein Neubau und sei aussagekräftiger.

swissinfo: Was ist das Ziel des Denkmaltags?

C. K.: Der Europäische Denkmaltag ist die grösste Sensibilisierungs-Kampagne im Bereich der Kulturgüter-Erhaltung. In Frankreich und den Beneluxländern ist er allerdings viel stärker verankert als in der Schweiz.

Aus diesen Ländern stammt die ursprüngliche Idee, Denkmäler an speziellen Tagen für das Publikum zu öffnen. In der Schweiz findet dieses Jahr die 12. Ausgabe des Denkmaltags statt.

swissinfo: Wo steht die Schweizer Denkmalpflege im europäischen Vergleich?

C. K.: In den 1970er- und 1980er-Jahren hatte die Schweiz eine Vorreiterrolle in der Denkmalpflege.

Das ist nicht zuletzt auch darauf zurückzuführen, dass das Land sich nach dem Zweiten Weltkrieg im Gegensatz zu Deutschland, Frankreich und Österreich nicht mit der schwierigen Frage der Rekonstruktion beschäftigen musste. Weil man hier nicht mit dem Wiederaufbau beschäftigt war, gab es mehr Freiraum, um die Ansätze der Denkmalpflege weiterzuentwickeln.

swissinfo: Hat die Kampagne nach bisher 11 Denkmaltagen Wirkung gezeigt?

C. K.: Es ist immer noch sehr viel Aufbauarbeit zu leisten. Während wir in den Anfängen rund 25’000 Besucher zählten, waren im letzten Jahr schon fast 70’000 am Denkmaltag unterwegs – ein schönes Resultat. Es kommt aber immer auch auf das jeweilige Thema und das Wetter an.

Viele Leute engagieren sich sehr für den Denkmaltag, sie melden sich bei uns immer wieder, bestellen Broschüren und geben uns sehr positive Feedbacks. Einige leisten sogar einen freiwilligen Unkostenbeitrag, was uns immer wieder erstaunt und natürlich sehr freut.

swissinfo: Gibt es Kantone, die sich am Denkmaltag besonders hervortun?

C. K.: In der Romandie stellen wir ein stärkeres Engagement als in den übrigen Gebieten der Schweiz fest.

In den Kantonen Waadt und Genf etwa wurden für die Organisation des Denkmaltags eigens Stellen geschaffen, die gut eingerichtet sind und denen genügend finanzielle Mittel zur Verfügung stehen.

Die französische Schweiz ist wahrscheinlich auch stärker beeinflusst von Frankreich, wo der Tag des Denkmals schon länger verankert ist.

Der Denkmaltag ist in der Romandie immer ein riesiges Fest: Von der Hausfrau, die Kuchen gebacken hat, über den Winzer, der seinen Wein am Stand verkauft, alle sind da und beteiligen sich.

swissinfo: Wo sind Sie am 10. und 11. September anzutreffen?

C. K.: Ich würde mir gerne das umgebaute Bauernhaus aus dem 17. Jahrhundert in Noville im Kanton Waadt ansehen, dem die Architekten Doris Wälchli und Uli Braun neues Leben eingehaucht haben. Ich bin gespannt darauf, was sie aus dem ruinösen Bau gemacht haben.

swissinfo, Nicole Aeby

Der diesjährige Europäische Tag des offenen Denkmals findet am 10. und 11. September statt.

Er trägt den Slogan “vorher – nachher” und ist dem Thema “pflegen – umnutzen – weiterbauen im historischen kontext” gewidmet.

In der Schweiz geht der Anlass zum 12. Mal über die Bühne.

Dort sind Interessierte an rund 100 verschiedenen Orten zu über 200 Führungen, freien Besichtigungen, Ausstellungen und Filmvorführungen eingeladen.

Cordula Kessler ist Projektleiterin bei der Nationalen Informationsstelle für Kulturgüter-Erhaltung (NIKE), die den Europäischen Tag des Denkmals auf nationaler Ebene koordiniert.

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