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“Gegenüber kritischen Stimmen waren wir taub”

Keystone

Davos und die Krise, die Krise und Davos. Dieses Jahr funktioniere das eine nicht ohne das andere, erklärt der Generaldirektor des World Economic Forums (WEF) und lädt gleichzeitig zu einer generellen Mea Culpa ein. Das WEF-Jahrestreffen beginnt am Mittwoch.

swissinfo: Noch nie haben sich so viele Teilnehmende angemeldet wie dieses Jahr. Wie kommt es zu diesem Rekord?

André Schneider: In Krisenzeiten wie dieser, wo die Unsicherheit sehr gross ist, haben die Leute das Bedürfnis, miteinander zu reden. Sie haben verstanden, dass es notwendig, sich mit Vertretern anderer Wirtschafszweige, anderer Weltregionen, anderer Regierungen und der Zivilgesellschaft zu unterhalten.

Dieses Forum ist der einzige Ort, an dem sich diese Menschen informell treffen können, um zusammen zu analysieren, woher man kommt, und mögliche Lösungen zu diskutieren, um zu schauen, wo man hin will und wie man dorthin kommt.

swissinfo: Es sind im Grossen und Ganzen die Verantwortlichen der Krise, die zur Zeit in Davos zusammenfinden, nicht wahr?

A.S.: Sie sind da, weil sie an der Findung einer Lösung teilnehmen müssen. Es sind die führenden Finanzkräfte. Es ist unmöglich, über einer Lösung für die Zukunft zu brüten und dabei ein für uns alle sehr wichtiges Gebiet auszuschliessen – das sieht man in der gegenwärtigen Krise!

Andererseits sind zahlreiche Teilnehmer aus anderen Gebieten, die an den Folgen der Krise leiden, nicht Schuld an der Krise. Man muss gerecht sein: Nicht alle Wirtschaftsakteure haben beim Eintreten dieser Krise eine Rolle gespielt. Aber auch die leiden daran.

swissinfo: Aber was kann Davos ausrichten angesichts einer systemischen Krise, welche die Denkweisen auf den Kopf stellt?

A.S.: Zuallerest kann Davos eine Diskussion zu den kurzfristigen Aktionen lancieren, welche derzeit eingeleitet werden. Man darf auch nicht vergessen, dass der Ursprung der Krise einen Zusammenhang mit den viel zu tiefen Leitzinsen der amerikanischen Zentralbank hat.

Bei den heute beschlossenen Massnahmen muss man aufpassen, dass nicht die nächste Krise ausgelöst wird, die gemäss unseren Erfahrungen noch schlimmer wäre.

Und zweitens lässt Davos eine Diskussion rund um die möglichen Formen der künftigen Wirtschaftspraktiken zu. Praktiken, welche die Nachhaltigkeit miteinbeziehen müssen.

Wenn wir ein Wirtschaftswachstum brauchen, um auf die grossen globalen Herausforderungen zu reagieren, sollten wir auch über die Formen einer nachhaltigen Wirtschaft nachdenken, welche die klimatischen und ökologischen Herausforderungen berücksichtigt.

swissinfo: Den ganzen Umfang der Krise hat fast niemand vorausgesehen. Auch nicht in Davos…

A.S.: Das stimmt nicht. Wir sprechen seit zwei Ausgaben darüber. Es haben sehr kritische Debatten zum Thema stattgefunden. Doch die ganze Welt muss ihre Sünden bekennen: Wir wollten die kritischen Stimmen und Signale nicht hören.

Man muss aber auch verstehen, dass das WEF nicht eine Regierung ist. Wir fällen keine Entscheide. Wir versuchen, kritische Debatten anzustossen, die den Entscheidungsträgern erlauben, die kommenden Herausforderungen, die Risiken und die möglichen Entscheide zu erkennen.

Im letzten Jahr haben wir klar gesehen, wie schwierig es ist, diese Art von Botschaft verständlich zu machen, wenn sich die ganze Welt in die gleiche Richtung bewegt, weil das politisch einfacher ist.

Seit wir die Krise kennen, fällt es vielleicht leichter, dieses Jahr auch die kritischen Stimmen in Davos zu hören und sich den echten Herausforderungen zu stellen, die bereits 2008 diskutiert, jedoch von allen ignoriert wurden.

swissinfo: Stellt die Finanz- und Wirtschaftskrise nicht alle anderen Probleme in den Schatten?

A.S.: Das ist eine Herausforderung für uns. Natürlich müssen wir über die derzeitige Krise diskutieren. Aber wir dürfen die anderen wichtigen Themen nicht vergessen – den Klimawandel, die Lebensmittel-Krise, die Energie-Krise, das Wasser und natürlich noch weitere. Diese Probleme werden nicht einfach so verschwinden.

Wenn wir keine Antwort auf die Finanz- und Wirtschaftskrise finden, welche diese Probleme mit einbezieht, kommt in fünf Jahren die nächste Krise, dann die nächste – und die Situation wird sich zusehends verschlechtern.

swissinfo-Interview: Pierre-François Besson
(Übertragen aus dem Französischen: Gaby Ochsenbein und Christian Raaflaub)

Slogan: Die Ausgabe 2009 versammelt vom 28. Januar bis 1. Februar über 2500 Teilnehmende aus 96 Ländern. Sie steht unter dem Motto “Shaping the Post-Crisis World” (Die Welt nach der Krise gestalten).

Prominenz: Die bekanntesten unter den erwarteten Persönlichkeiten sind Wladimir Putin, Angela Merkel, die Premierminister Chinas (Wen Jiabao), Japans (Taro Aso) und Grossbritanniens (Gordon Brown), die französischen Minister Bernard Kouchner und Christine Lagarde, UNO-Generalsekretär Ban Ki-Moon und EU-Kommissionspräsident José Manuel Barroso.

Die Anfänge: Das World Economic Forum wurde 1971 als “Management Symposium” von Klaus Schwab gegründet.

Die Rechtsform: Das WEF ist eine nicht profit-orientierte Stiftung nach Schweizer Recht. Sie setzt sich für ein Unternehmertum im globalen öffentlichen Interesse ein. Die von rund tausend Mitgliederfirmen getragene Stiftung hat ihren Sitz in Cologny, Kanton Genf.

Das Ziel: Die Organisation beschäftigt rund 300 Personen in 52 Ländern. Sie sieht sich als Dialog-Plattform zwischen Entscheidungsträgern, als Hilfsinstrument für strategische Entscheide und als Katalysator für verschiedene Initiativen, die den “Zustand der Welt” verbessern wollen.

Die Ausstrahlung: Das WEF organisiert weltweit Symposien, fördert Initiativen und Arbeitsgruppen, realisiert Studien und schlägt Master-Programme vor.

Der Zustand: Laut André Schneider ist die Stiftung auf finanzieller Ebene von der Wirtschaftskrise verschont geblieben. Die Geschäftszahlen sähen gut aus. “Wir sind bei guter Gesundheit”, sagt der Generaldirektor.

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