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Paul Senn, die Ikone der Schweizer Fotoreportage

Übertritt von spanischen Flüchtlingen an der französisch-spanischen Grenze in Le Perthus, Frankreich, Januar 1939. paulsenn.ch

Das Kunstmuseum Bern widmet dem Fotoreporter Paul Senn (1901-1953) eine umfangreiche Retrospektive. Dieser war in den 1930er- und 1940er-Jahren sehr erfolgreich und national bekannt.

Senns Bilder sind zu Ikonen des Schweizerischen Lebens während der Kriegsjahre geworden. Die Ausstellung zeigt aber auch weitgehend unbekannte Farbfotografien aus der Nachkriegszeit.

Paul Senn wird zusammen mit Gotthard Schuh und Hans Staub zu den drei grossen ‘S’ der Schweizer Reporter-Generation zwischen 1930 und 1950 gezählt. In der Ära des Chefredaktors Arnold Kübler erreichte er bei der Zürcher Illustrierten und später beim Monatsmagazin Du nationale Bekanntheit.

In seinen Reportagen griff er häufig soziale Themen auf und fing den Alltag der Menschen mit einer ganz eigenen Bildsprache ein. “Senn ist ein Meilenstein der Schweizer Fotografie”, sagt Markus Schürpf, Historiker für Fotografie und Kurator der Retrospektive im Kunstmuseum Bern.

Bauern und Arbeiter

Die Ausstellung erlaubt eine Wiederentdeckung der klassischen Arbeiten Senns, darunter Reportagen über Schweizer Bauern und Arbeiter, die 1943 auch in Buchform erschienen waren.

Es handelt sich um Fotografien, die Senn im Verlaufe eines Jahrzehnts machte. Sie spiegeln in gewisser Weise das Bild, das sich die Schweiz in den Kriegsjahren geben wollte. Es sind Bilder eines bescheidenen Landes, mit bäuerlichen Wurzeln, solide und würdig.

Senn, der mit den Sozialdemokraten sympathisierte, unterstützte mit seiner Arbeit – vielleicht nicht ganz absichtlich – die “geistige Landesverteidigung” seiner Heimat. Denn die offizielle Schweizer Politik versuchte in den 1930er-Jahren angesichts der nationalsozialistischen Bedrohung von Norden und Süden, die nationale Einheit zu stärken. Diese Politik war nicht unproblematisch und selber nationalistisch gefärbt.

Durchaus typisch in diesem Zusammenhang ist eine von Senns Fotografien, die einen Jungen zeigt, der Milch aus einer Schüssel trinkt. Dieses Bild entstand 1935 im Rahmen einer Reportage über die Verbreitung des Radios in den Schulen. Während der Kriegsjahre wurde dieses Foto verwendet, um die Wehrbereitschaft der Schweiz zu unterstreichen.

Das andere Gesicht der Schweiz

Die Berner Ausstellung erlaubt jedoch zugleich, das zutiefst soziale Engagement von Paul Senn kennenzulernen. Es sind Bilder, in denen die Idealisierung seines Heimatlandes keinerlei Rolle spielt, darunter die Reportagen über Erziehungsheime für Minderjährige, das Gefängnis Thorberg bei Bern oder die psychiatrische Klinik Waldau.

In diese Rubrik fallen auch die Fotoreportagen über Verdingkinder. Es handelt sich um Kinder und Jugendliche aus armen Familien, die von den Behörden Bauernfamilien anvertraut wurden, wo sie jedoch häufig wie Sklaven behandelt oder auch missbraucht wurden.

Zusammen mit dem bekannten Journalisten Peter Surava, Chefredaktor der damaligen Zeitung Nation, publizierte Senn 1944 eine Reportage über einen jungen Burschen aus Bern, der in seiner Pflegefamilie sexuell missbraucht worden war. “Es dürfte sich um den ersten Artikel handeln, in dem der Begriff ‘sexueller Missbrauch’ gefallen ist”, sagt Markus Schürpf gegenüber swissinfo.

Ein kosmopolitischer Fotograf

Senn beschränkte sich in seiner Arbeit keineswegs darauf, die soziale Realität seiner Heimat darzustellen. “Auch wenn er seine Wurzeln in Bern hatte, war er doch ein Weltenbürger”, sagt Markus Schürpf, denn Senn habe immer wieder längere Zeitperioden im Ausland verbracht.

In den 1930er-Jahren realisierte er Reportagen über den spanischen Bürgerkrieg. Kurz vor Ende des Zweiten Weltkrieges reiste er in die USA. 1946 kehrte er dorthin zurück.

1943 organisierte er mit anderen Schweizer Journalisten eine Reise ins befreite Lyon. Dort dokumentierte er beispielsweise die Exhumierung französischer Partisanen, die von Nazis massakriert worden waren.

Diese Fotografien wurden in der Nation und im sozialistischen Magazin Aufstieg publiziert. Ihre Brutalität kontrastiert radikal mit der gemässigten Darstellung der Schweizer Presse in der Darstellung der Kriegsgreuel.

Nicht weniger eindrücklich sind die Bilder, die Senn 1942 im französischen Lager Rivesaltes machte oder die Reportagen über den Wiederaufbau nach dem Krieg.

Die Entdeckung der Farbe

Ein grosser Verdienst der Ausstellung in Bern ist mit Sicherheit die (Wieder-)Entdeckung der Farbfotografien Senns. Nur ganz wenige dieser Arbeiten waren damals in Zeitschriften erschienen – häufig mit unglücklichen chromatischen Farbeffekten.

In Zusammenarbeit mit der Schule für Gestaltung von Bern wurden viele Dias des Berner Fotofragen digitalisiert. Die mit einem Tintenstrahldrucker angefertigten Nachdrucke spiegeln die Ästhetik der 1940er-Jahre wieder.

Unter diesen Arbeiten mit Farbfotografien sticht vor allem eine Reportage über Coney Island aus dem Jahr 1946 hervor, damals eine geradezu unglaublich moderne Arbeit. “Es gab Tage, in denen seine Arbeit als Fotograf förmlich explodierte. Wenn man diese Werke anschaut, ist nichts mehr von der geistigen Landesverteidigung zu sehen”, erklärt Schürpf.

swissinfo, Andrea Tognina
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die Ausstellung “Paul Senn Fotoreporter” im Kunstmuseum Bern dauert vom 7. Juni bis 2. September.
Gezeigt werden über 300 Vintage-Prints, Sekundärabzüge, Farbfotos, Reportagen und reichhaltiges dokumentarisches Material.

Während seiner Reisen in die USA interessierte sich Senn stets auch für das Schicksal Schweizer Auswanderer.

Senn wollte den Schweizern in Amerika gerne ein eigenes Buch widmen. Das Projekt scheiterte, doch die Fotos erschienen in verschiedenen Schweizer Illustrierten.

Es sind Bilder, welche die Realität der Emigration zeigen und auf Gemeinplätze verzichten; beispielsweise die Porträts von Afroamerikanern in New Berne.

“Senn bewunderte mit Sicherheit die Schweizer Gemeinschaft im Ausland”, sagt Markus Schürpf. “Aber er wollte auch zeigen, dass es arme Schweizer im Ausland gab.”

Das Archiv von Paul Senn kam 1982 als Depositum der Gottfried Keller-Stiftung an das Kunstmuseum Bern.

2003 hat das Museum das Projekt Paul Senn initiiert, das den Erhalt, die Katalogisierung und den öffentlichen Zugriff auf den Nachlass des Fotografen zum Ziel hat.

Zu den vielen Projekten gehört die Einrichtung einer Internet-Seite zu Senn (www.paulsenn.ch). Dort können fast 1500 Fotoreportagen online betrachtet werden.

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