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Unerwarteter Erfolg für rätoromanisches Theater

Giovanni Netzer vor der Burg Riom. Willy Spieler / origen.ch

Der 40-jährige Bündner Autor und Theaterregisseur Giovanni Netzer hat den Hans-Reinhart-Ring erhalten, die höchste Theaterauszeichnung in der Schweiz.

Gegenüber swissinfo erklärt der Initiant des ersten rätoromanischen Theaters, warum das Gewand des Ministranten aus ihm einen Theatermann machte und was es heisst, in einer Randregion zeitgenössische Kultur zu fördern.

Giovanni Netzer ist der Schweizer Theatermann von heute. Nachdem er in München Theologie und Theaterwissenschaften studiert hatte, kehrte er in seinen Geburtsort Savognin in der Bündner Region Surses zurück.

Hier hat er die Theaterinstitution Origen gegründet und letztes Jahr auf der Burg Riom das erste professionelle rätoromanische Theater eingeweiht.

swissinfo: Religion und Theater scheinen für Sie in enger Verbindung zu stehen…

Giovanni Netzer: Meine erste Theatererfahrung fand nicht in einem Stadttheater statt, sondern in einer Kirche. Wir hatten damals einen Pfarrer, der das ganze Ministrantenwesen stark belebte. Darin bin ich völlig aufgegangen. Zudem gab es einen guten Kirchenchor, der die emotionale, musikalische Dimension lieferte.

Während des Studiums habe ich gelernt, dass es einen ursprünglichen Zusammenhang zwischen Kult und Theater gibt. Wenn man dem Theater die naturalistische Oberfläche wegnimmt, gerät man in eine Situation, die mit liturgischen oder kultisch wirkenden Mitteln arbeitet.

Was Kult und Theater verbindet, ist die Dimension des Spirituellen. Das Theater hat die Möglichkeit, Personen, Geister oder Ideen auf die Bühne zu stellen, die es in der Realität so nicht gibt.

Auch die Liturgie oder der Kult beschäftigen sich mit nicht-präsenten Wirklichkeiten. Das gibt dem Theater eine Vielschichtigkeit, die mich fasziniert.

swissinfo: Sie haben 10 Jahre lang in München gelebt. Dann sind Sie nach Graubünden, zurückgekehrt. Fehlt Ihnen die Grossstadt nicht manchmal?

G.N.: Natürlich vermisse ich die Stadt in punkto kulturellen Austausch. Andrerseits ist es mindestens so spannend, an einem Ort Theater zu machen, wo es niemand erwartet. In München hatte ich immer den Eindruck, dass diese grossen Städte ein dermassen reiches Kultur-Angebot haben, dass es nicht besonders sinnvoll ist, dieses noch zu erweitern.

Jetzt gilt es, hier ein Netzwerk aufzubauen, das die Abgeschiedenheit in den Bergen auflöst – zugunsten vieler Kontakte in alle Richtungen und in verschiedene Kulturräume hinein.

swissinfo: Geniessen Sie hier grössere Freiheiten als in der Stadt?

G.N.: Wenn man sich als Kulturschaffender soweit motivieren kann, nicht nur die direkte künstlerische Arbeit zu leisten, sondern sich darüber hinaus auch um die Organisation und die Mittelbeschaffung kümmert, ist man sehr frei. Man hat zwar wahnsinnig viel Arbeit, aber dafür auch die Möglichkeit, eine eigene, persönliche Idee zu entwickeln und durchzuziehen.

swissinfo: Sie haben einmal gesagt: “Diese Region ist eine Schatztruhe”. Was liegt in dieser Truhe?

G.N.: Durch die Präsenz der Natur, durch die Präsenz der Berge gibt es hier eine Dimension, die nicht von Menschen gemacht ist. Wenn man die romanischen Märchen und Sagen liest, merkt man, dass da eine Jahrhunderte alte Auseinandersetzung mit dem Lebensraum existiert.

Da hat sich sehr viel Material angesammelt, daraus schöpfe ich. Diese fast metaphysische Präsenz der Natur, dieses riesige Theater, dieses grosse Schauspiel, das sich Tag für Tag da abspielt, die Veränderung der Farben, des Wetters, all dies ist für mich sehr wichtig.

swissinfo: Sie schreiben auf Romanisch…

G.N.: Mich fasziniert eigentlich die Sprachsituation als solche. Wir haben mehrere Stücke gemacht, die mehrsprachig sind. Bei uns ist die Mehrsprachigkeit Realität, jede Einheimische, jeder Einheimeischer wechselt zwanzig Mal am Tag die Sprache. Und das ist auch ein dramaturgisches Potenzial.

Es war nie die Idee, hier ein romanisches Ghetto zu machen, sondern es soll ein Ort sein, wo man die Möglichkeit hat, das Romanische zu hören, die harten Laute zu spüren und zu sehen, dass es lebt.

swissinfo: Sie haben die Burg Riom in ein Theater verwandelt. Hegten Sie schon lange die Idee, aus dem Gebäude ein Theater zu machen?

G.N.: Die Idee, aus der Burg Riom etwas zu machen, gibt es seit mindestens 30 Jahren und ist nicht von mir. Ich selber bin mit dieser Burg aufgewachsen. Es gab aber eine Zeit als Kind, da war ich enttäuscht von dieser Burg, weil man da rein ging und es war nichts mehr drin.

Das hat sich aber geändert. Der Raum kam mir immer kostbar vor, gerade weil er so gross ist, weil die ganze Dekoration weg ist, weil er reduziert ist auf die existentielle Trägerstruktur des Raumes. Das verleiht ihm eine hohe Dramatik.

swissinfo: Sie machen zeitgenössisches, eigentlich kompromissloses Theater. Wie sind die Reaktionen des lokalen Publikums?

G.N.: Das Theater, das wir machen, ist einerseits ungewöhnlich. Auf der anderen Seite glaube ich aber, dass es gerade durch die Reduktion auf das Wesentliche wiederum zugänglich wird.

Man muss sich darauf einstellen, dass es eine andere Sprache ist, aber letztlich ist sie nicht kompliziert. Wenn man auf dem Land arbeitet, ist es manchmal fast einfacher, weil die Menschen sehr viel offener sind, gerade weil sie wenig Vergleichsmöglichkeiten haben,

swissinfo: Mit knapp 40 Jahren sind Sie Träger des Hans-Reinhart-Rings. Wie waren die Reaktionen?

G.N.: Ich kenne den Reinhart-Ring als Theaterschaffender und weiss auch, dass er in der Regel für ein Lebenswerk überreicht wird. Und in dieser Kategorie möchte ich mich natürlich nicht sehen. Ich habe schon noch einiges vor.

Über die Auszeichnung bin ich schon etwas erschrocken, weil es darunter Träger gibt, die Weltklasse sind. Zu denen kann ich mich nicht zählen. Von daher ist die Herausforderung sehr gross.

Gleichzeitig ist es natürlich eine enorme Hilfe, um ein Theater in der Pampa über die regionalen Grenzen hinaus bekannt zu machen. Das brauchen wir, sonst funktioniert das Projekt nicht.

swissinfo-Interview: Andrea Tognina, Savognin
(Adaption: Gaby Ochsenbein)

Giovanni Netzer wurde am 28. Oktober 1967 in Savognin, im Kanton Graubünden geboren.

Nach der Matura studierte er in Chur Theologie. Später lebte er 10 Jahre in München, Deutschland, wo er Theologie, Kunstgeschichte und Theaterwissenschaften studierte.

In München doktorierte er in Theaterwissenschaft zum Thema rätoromanisches Barock-Theater.

Er arbeitete als Autor für das rätoromanische Radio und Fernsehen, war Präsident der Union für rätoromanische Literatur, Vizepräsident des internationales Theaterinstituts und Direktor des Museums Chesa Planta in Samaden.

Vor dem Hans-Reinhart-Ring wurde Giovanni Netzer bereits mehrmals für sein künstlerisches Wirken ausgezeichnet, so von der Regierung des Kantons Graubünden, der Kulturstiftung Pro Helvetia und rätoromanischen Kulturvereinen.

Der Hans Reinhart-Ring ist nach seinem Gründer, dem Zürcher Dichter und Mäzen Hans Reinhart (1880-1963) benannt.

Seit 1957 vergibt ihn die Schweizerische Gesellschaft für Theaterkultur jedes Jahr, mit Unterstützung des Bundesamtes für Kultur. Die Wahl wird von einer unabhängigen Jury getroffen.

Frühere Preisgewinner waren unter anderen Reinhart Spörri (1983), der Regisseur Werner Düggelin (1987) und der Schauspieler Mathias Gnädinger (1996).

2006 wurde der Freiburger Schauspieler Roger Jendly mit dem Ring geehrt.

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