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Canyoning kämpft mit seinem Image

Canyoning kombiniert Waten, Schwimmen, Rutschen und Springen. swissinfo C Helmle

Canyoning hat den Ruf, Abenteuer für Leichtsinnige zu sein, erst recht seit 1999, als im Saxetbach 21 Personen ums Leben kamen. Anbieter, Behörden und Versicherer haben seither reagiert.

swissinfo stieg für einen Augenschein in die Schlucht.

“Niemand muss springen, wir können immer Abseilen”, betont der Bergführer Urs Tobler. Vor ihm tobt die Rierna, ein wilder Zufluss des Ticino, durchs Val d’Ambra. Die Idee, freiwillig da hinein zu steigen, erscheint lebensmüde. Der steife Neopren-Anzug, die klobigen Schuhe und der Helm behindern jede Bewegung. Nach drei Schritten in die Fluten füllt sich der Anzug mit Wasser, kaltem Wasser. Das also ist Canyoning.

Führungs-Qualitäten gefragt

“Es darf keine Gruppendynamik entstehen, die Leute unter Druck setzt”, erklärt Tobler später. “Sonst passieren Unfälle.” Eine solche Dynamik zu erkennen und zu unterbinden, sei eine seiner wichtigsten Aufgaben.

Er trägt die Verantwortung, unsere Gruppe wieder heil aus der Schlucht “Val d’Ambra” zu führen. Und das bei einer Sportart, die seit dem Unfall vom Saxetbach im Berner Oberland, bei dem 21 Touristen um Leben kamen, keinen guten Ruf hat.

Wasser, Granit und Sonne

Das Wasser im Anzug wärmt sich, die erste Unsicherheit legt sich. Die Gruppe – ein Wasserkraft-Ingenieur, ein Energieberater und der Journalist plus zwei Bergführer – watet durch hüfttiefes Wasser. Die Sonne spielt mit den noch grünen Blättern der Bäume, zaubert ein friedliches Lichtspiel aufs Wasser, darunter schimmert der Granit grau und weiss.

Plötzlich blockieren gigantische Felsen die Schlucht, das Wasser fliesst schneller. Wir spähen vorsichtig über die Blöcke – vier Meter unter uns liegt das Wasser wieder klar und still in einem tiefen Pool. Da müssen wir runter. Abseilen oder Springen?

Sicherheit wird zum Argument

“Eine Woche vor der Tour beginne ich, die Wetterprognosen zu verfolgen und konsultiere das Wetter-Radar im Internet”, sagt Tobler. “Ich muss wissen, wo es Wasserfassungen gibt, wo es Notausstiege hat und wer in meiner Gruppe ist.” Tobler hat die Zusatzausbildung “Canyoning” des Schweizerischen Bergführer-Verbandes (SBV) absolviert, die seit 1995 angeboten wird.

“Die Ausbildung der Guides ist das Wichtigste”, bestätigt Anton Draganits, Präsident des Schweizerischen Trendsportverbandes. Sein Verband gehört zu Stiftung “Safety in Adventure”, zu der neben Tourismusverbänden und kantonalen Behörden auch der schweizerische Unfallversicherer SUVA und das Bundesamt für Sport gehören. Die Stiftung vergibt ein Qualitäts-Label an Firmen, welche die Anforderungen erfüllen. “Wer das Label will, muss viel Aufwand betreiben: Das garantiert Qualität”, erklärt Draganits.

Stoff für Adrenalin-Junkies?

Der erste Sprung! Fünf Meter freier Fall, dann tief ins kalte Nass. Der Neopren-Anzug zieht nach oben, drückt den Kopf aus dem Wasser. Die Plastikhandschuhe füllen sich mit Wasser, helfen nur wenig beim Schwimmen zum rettenden Felsen, wo schon der Energieberater wartet.

Das Adrenalin kommt nicht als Schub, sondern durchflutet den Körper allmählich. Die Euphorie hält für einige Minuten an. Man schaut den andern zu, die auch springen.

Bei der Sicherheit gespart

“Hohe Sprünge sind heute tabu, und die Gruppen sind kleiner. Seit dem Unfall im Saxetbach haben die Versicherungen sehr strenge Auflagen erlassen”, sagt Tobler. Vor der Tour müssen alle seine Teilnehmenden gewisse Regeln und einen beschränkten Haftungs-Ausschluss unterschreiben.

Auch im Saxetbach im Berner Oberland werden wieder Touren angeboten. “Die Nachfrage ist sehr gut”, sagt der Chef eines von mehreren Anbietern, die im Saxetbach aktiv sind. Den Namen seiner Firma will er nicht genannt haben, zu tief sitzt die unweigerliche Assoziation mit der Tragödie.

“Die ältesten Anbieter sind seit 1988 im Geschäft”, weiss Draganits. “Als vor ein paar Jahren die Nachfrage explodierte, schenkten einige Firmen der Sicherheit, insbesondere den Witterungsbedingungen, nicht mehr genügend Aufmerksamkeit.”

Schokoriegel aus der Flasche

Die Gruppe sitzt am Ufer, geniesst die Sonne. Die Bergführer verteilen aus einer wasserdichten Plastikflasche Schokoriegel. Sie tragen jeweils auch die beiden Rucksäcke mit Seilen, Karabinern und Notfall-Material. Am Boden haben diese grosse Löcher mit Ösen, damit das Wasser ablaufen kann – beim Canyoning bleibt nichts trocken.

Der Fluss wechselt immer wieder sein Gesicht. Einmal zeigt er sich von seiner sanftesten Seite; fliesst gemächlich durch die grandiose Urlandschaft – um dann wieder über Felsen zu stürzen, die im Flussbett liegen, als ob vor Jahrtausenden ein Riese dem Murmelspiel mit Gesteinsbrocken überdrüssig geworden wäre.

Mit jedem Sprung wächst der Ehrgeiz unserer Gruppe: Wann immer es für uns geht, wird gesprungen. Ausser die Bergführer bestehen auf Abseilen.

swissinfo, Philippe Kropf, Val d’Ambra

Ausrüstung für Teilnehmende:
Neoprenanzug mit Verstärkungen an Gesäss und Armen
Schuhe mit speziell haftenden Sohlen, Neoprensocken
Bergsteiger-Helm, Handschuhe
Klettergurt mit Abseilgerät und Karabinern

Saxetbach-Unfall:

Am 27. Juli 1999 überraschte eine Wasserwalze im Saxetbach im Berner Oberland, ausgelöst durch ein Gewitter, eine Canyoning-Gruppe.

21 Menschen zwischen 19 und 32 Jahren wurden in den Tod gerissen. Die meisten waren australische Touristen.

Ein Gericht verurteilte die Verantwortlichen Chefs der Firma wegen fahrlässiger Tötung zu bedingten Gefängnisstrafen und Bussen.

Nach einem tödlichen Bungee-Jumping-Unfall im Jahr 2000 stellte die Firma ihren Betrieb ein.

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