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Hauswächter nutzen Leipziger Gründerzeit-Häuser

Ein Wächterhaus in Leipzig. Swissinfo

In Leipzig stehen unzählige Gründerzeithäuser leer. Um die Altbauten vor dem Verfall zu bewahren, ermöglicht der Verein "Haushalten" eine Zwischennutzung. Dem Projekt angeschlossen hat sich auch ein Schweizer Hausbesitzer.

Das alte Haus hat Glück gehabt. Jahrelang stand es leer und verfiel zusehends. Längst hatten Einbrecher alles mitgenommen, was nicht niet- und nagelfest war.

“Sogar die Haustür wurde uns gestohlen”, erinnert sich Hans-Rudolf Müller-Nienstedt, dem das markante Eckgebäude an der Ludwigstrasse 99 im Leipziger Stadtteil Neustadt-Neuschönefeld gehört.

Der Kinderpsychiater führt im Schweizerischen Kreuzlingen eine Gemeinschaftspraxis zusammen mit seiner Frau, der Psychoanalytikerin Irma Müller-Nienstedt. Gegen den Verfall ihrer Immobilie im fernen Leipzig konnten die beiden wenig tun, denn für eine umfassende Sanierung fehlte das Geld.

Doch nun prangt an der Fassade des herrschaftlichen Altbaus aus der Gründerzeit ein leuchtend gelbes Transparent: “Wächterhaus” steht darauf.

Seit gut einem Jahr wird das Haus mit Einverständnis seiner Schweizer Besitzer zwischengenutzt. Die Fenster im Erdgeschoss sind nicht mehr mit Brettern zugenagelt, die Türklingel funktioniert, und aus einer Wohnung im Dachgeschoss hört man Musik. Zu verdanken ist dies dem Verein “Haushalten”, einem Zusammenschluss aus Architekten, Geografinnen und Stadtplanern in Leipzig.

“Haushalten” wurde 2004 gegründet und hat zum Ziel, denkmalgeschützte Häuser in der Innenstadt, die unsaniert und verlassen sind, vor dem Verfall zu bewahren.

Zwar sind heute über 80 Prozent des Altbaubestands in Leipzig saniert, so dass der grösste Teil des baukulturellen Erbes gesichert ist. Doch gibt es immer noch rund 2000 unsanierte Häuser aus der Gründerzeit, Spätklassizismus und Jugendstil, die leer stehen und in einem desolaten Zustand sind.

Viele der städtebaulich wertvollen Gebäude stehen an verkehrsreichen Strassen und in “Problemstadtteilen” – was Investoren abschreckt.

Künstler und Existenzgründer

Das Grundprinzip von “Haushalten” beruht auf Hauserhalt durch Nutzung. Dabei richten sich so genannte “Hauswächter” eine Immobilie schrittweise selber und nach ihren Vorstellungen her.

Die Räumlichkeiten stehen ihnen für eine gewerbliche Nutzung oder auch zum Wohnen für fünf bis sieben Jahre frei zur Verfügung. Die “Hauswächter” – am liebsten vermittelt der Verein an Künstler, Existenzgründer oder Vereine – bezahlen keine Miete, lediglich die laufenden Betriebs- und Nebenkosten müssen sie übernehmen.

“Die Nutzergemeinschaft kümmert sich ums Haus und belebt es, wodurch es im öffentlichen Raum wieder positiv wahrgenommen wird”, sagt Alena Bleicher, Geografin und Vereinsmitglied bei “Haushalten”.

Auch die Eigentümer profitieren: Sie werden von Unterhaltskosten und der Gefahr des weiteren Gebäudeverfalls entlastet. Drohende Witterungsschäden zum Beispiel werden von den “Hauswächtern” schnell entdeckt.

Als Müller-Nienstedts in einem “Spiegel”-Artikel vom Wächterhaus-Projekt erfuhren, waren sie denn auch sofort davon angetan. “Es war die Chance, wieder Leben in das Haus zu bringen”, sagt der Kinderpsychiater.

Wieder Wasser und Strom

Rund 30’000 Euro investierte das Ehepaar, um seine Immobilie, die einst einer entfernten Verwandten gehört hatte und der Familie nach zähen Verhandlungen nach der Wende zurück übertragen wurde, wieder nutzungsfähig zu machen. So mussten in jedes Stockwerk neue Wasser- und Elektroleitungen gelegt werden.

Ende August 2007 übernahmen die “Hauswächter” den weiteren Um- und Ausbau; bis 2012 dürfen sie das Haus mietfrei und selbstbestimmt nutzen.

In den unteren Stockwerken sind vor allem Ateliers eingerichtet, eine Wohnung wird von Müller-Nienstedts ab und zu selber genutzt. Zuoberst ist eine Wohngemeinschaft eingezogen. Die vier Bewohner haben schon einiges geleistet: Alte Öfen wieder angeschlossen, Fenster abgeschliffen, abgenutzte Laminatböden herausgerissen.

Haushalten macht Schule

Zwölf Wächterhäuser gibt es inzwischen in Leipzig. Die Bandbreite der Nutzungen reicht von kulturellen und sozialen Vereinen über Kunstgalerien bis hin zu einer Seifensiederei und einem vegetarischen Bistro.

Kürzlich wurde das erste Wächterhaus in die “Freiheit” entlassen. Die Nutzer haben einen neuen unbegrenzten Mietvertrag direkt mit dem Eigentümer geschlossen. “Das ist natürlich der Idealfall, wenn wir uns sozusagen selber überflüssig machen”, sagt Alena Bleicher von “Haushalten”. So schnell wird das allerdings nicht passieren.

Das Konzept “Wächterhaus” hat auch die Leipziger Stadtverwaltung überzeugt, so dass sie sich heute an der Suche nach geeigneten Immobilien beteiligt. Und die Datenbank an potenziellen “Hauswächtern” umfasst inzwischen über 400 Interessenten.

Ausserdem hat das Bundesbauministerium die Wächterhäuser in sein Programm “Experimenteller Wohnungs- und Städtebau” aufgenommen. Weitere “Haushalten”-Vereine haben sich bereits in Halle und Chemnitz gegründet.

swissinfo, Paola Carega, Leipzig

Wohnungsleerstand ist in Leipzig – wie in vielen ostdeutschen Städten – ein grosses Problem.

Seit der Wende haben rund 100’000 Menschen die zweitgrösste Stadt Sachsens verlassen, was bei einer Arbeitslosenquote von derzeit fast 17% nicht verwundert.

Zwar boomen einige wenige Stadtteile, etwa die schmucke Südvorstadt, und auch die vielen Studenten bringen Leben in die ehemalige Industriemetropole der DDR.

Doch die Folgen des Strukturwandels sind unübersehbar: verlassene Häuser und rund 45’000 leerstehende Wohnungen, vor allem in den Plattenbausiedlungen am Stadtrand sowie in den traditionellen Arbeiterquartieren im Westen und Osten der Innenstadt.

Besonders vom Strukturwandel betroffen ist der Stadtteil Plagwitz, wo zu DDR-Zeiten die grösste Textilfabrik des Landes über 4000 Menschen Arbeit bot.

Statt Industrie gibt es heute in Plagwitz viel Kultur, so haben sich zahlreiche Galerien angesiedelt.

Doch lebt ein Drittel der Bewohner von Plagwitz unter der Armutsgrenze, und jede vierte Wohnung steht leer.

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