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Massiv mehr Ritalin

Mit Ritalin werden vor allem Kinder mit Aufmerksamkeits- und Aktivitätsstörungen behandelt. swissinfo.ch

Die Verschreibung des Psychopharmakas Ritalin bei Kindern und Jugendlichen nimmt zu. In der Schweiz wurde 2000 fast sieben Mal mehr Ritalin verwendet als 1996.

In den 90er-Jahren hat die Verwendung von Ritalin weltweit massiv zugenommen. 1997 wurde rund fünfeinhalb Mal mehr Ritalin produziert als 1990. 85% der weltweit produzierten Menge an Methylphenidat werden in den USA abgesetzt.

Auch in anderen Ländern hat sich der Einsatz von Ritalin und verwandter Präparate ausgeweitet. Insbesondere in Deutschland, Kanada und Grossbritannien stieg der Verbrauch deutlich an.

In der Schweiz wurde 2000 fast sieben Mal mehr Ritalin verwendet als 1996. Laut dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) liegt die Schweiz bezüglich der Verwendung von Ritalin im Bereich der übrigen Länder Europas, jedoch deutlich hinter den USA und Kanada.

Zunahme um 690 Prozent

Das BAG hat am Montag eine Studie veröffentlicht, die sich mit der Ritalin-Abgabe im Kanton Neuenburg befasst. Allerdings: Die gesamtschweizerische Situation dürfte sich laut BAG nicht wesentlich unterscheiden.

Wie die BAG-Studie zeigt, nahm im Kanton Neuenburg zwischen 1996 und 2000 die abgegebene Menge Ritalin um 690 Prozent zu. Die Zahl der behandelten Patienten stieg um 470 Prozent von 76 auf 433 Personen. Daraus lässt sich schliessen, dass die pro Patient verschriebene Dosis zugenommen hat.

Fünfmal mehr Knaben als Mädchen

80 Prozent der Ritalin-Patienten waren 2000 zwischen 5 und 14 Jahren alt. 1996 waren es noch 53 Prozent. Am meisten Ritalin wurde Kindern zwischen 8 und 11 Jahren verschrieben. Dabei war die grosse Mehrheit Knaben; der Anteil der Mädchen nahm aber von 8 auf 19 Prozent zu.

Insgesamt wurden im Kanton Neuenburg 2000 1,8 Prozent aller 5 -14-Jährigen mit Ritalin behandelt, 2,9 Prozent der Knaben und 0,7 Prozent der Mädchen.

Jedes zehnte Kind ein “Zappelphilipp”

Ritalin ist mit den Amphetaminen verwandt. Es wird zur Behandlung von Narkolepsie und Depressionen verwendet, vor allem aber zur Behandlung von Aufmerksamkeits- und Hyperaktivitäts-Störungen (ADHD) bei Kindern und Jugendlichen. Ritalin und andere Präparate mit Methylphenidat unterliegen der Betäubungsmittelkontrolle.

Das BAG schätzt, dass etwa 5-10 Prozent der Kinder an ADHD, dem sogenannten Zappelphilipp-Syndrom leiden. Somit wird Ritalin immer noch deutlich weniger verschrieben als ADHD in dieser Altersgruppe verbreitet ist.

Eltern befürworten Behandlung

Dass Ritalin häufiger eingesetzt wird als noch vor einigen Jahren, hat verschiedene Ursachen. Laut Ronnie Gundelfinger, Oberarzt am Zentrum für Kinder- und Jugendpsychiatrie in Zürich, hat sich vor allem die Einstellung der Eltern massiv verändert. “Bis vor wenigen Jahren gab es sehr grosse Widerstände, wenn wir Eltern nach einer Abklärung eine medikamentöse Behandlung vorgeschlagen haben”, sagte Gundelfinger gegenüber swissinfo.

Zudem habe sich das Verständnis einer Aufmerksamkeits-Störung leicht verändert, so dass auch andere Altersgruppen mit Ritalin behandelt werden. Überdies seien auch andere Berufsgruppen stark mit Aktivitätsstörungen konfrontiert, so dass neben Kinder- und Jugendpsychiatern mittlerweile auch Kinderärzte und zum Teil sogar Hausärzte mit Ritalin behandeln würden.

Zunahme beunruhigend?

Das BAG will die Verwendung von Ritalin weiter untersuchen. Wenn die medikamentöse Behandlung sorgfältig abgeklärt werde und mit psychologischer Unterstützung von Fachpersonen und Eltern flankiert werde, könne sie den Betroffenen durchaus helfen.

Anlass zur Beunruhigung könnte laut BAG die weiterhin steigende Verwendung geben. Dies insbesondere angesichts der Tatsache, dass nicht alle Beschwerden dieser Art mit diesen Stimulanzien behandelt werden müssen.

“Ich glaube nicht, dass in grossem Stil Kinder behandelt worden sind, die eigentlich falsch diagnostiziert wurden”, sagt dazu der Facharzt Gundelfinger. Nach wie vor würden viele Kinder mit klinisch relevanten Aktivitäts- und Aufmerksamkeits-Störungen nicht behandelt. Natürlich gebe es auch immer wieder Kinder, wo man sich darüber streiten könne, ob eine Indikation für eine Behandlung bestehe oder nicht.

Die massive Zunahme der Verwendung von Ritalin ist laut Gundelfinger eher Ausdruck einer Normalisierung. “Die Schweiz hatte bis vor einigen Jahren eine extrem tiefe Behandlungsquote, und die hat sich in den letzten Jahren internationalen Standards angeglichen.”

Hansjörg Bolliger und Agenturen

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