Die Schweiz und ihre verschwundenen Dokumente
Akten, die in einem Armeebunker aufbewahrt werden, ein verschwundenes Dossier, das plötzlich wieder auftaucht: Die Crypto-Affäre zeigt, wie wichtig eine transparente Führung von Archiven in einem demokratischen Staat ist. Und es ist nicht das erste Mal, dass sich die Schweiz mit dieser Frage konfrontiert sieht.
Der Vorfall liegt zwar schon einige Monate zurück, doch die NZZ am Sonntag deckte ihn erst letzten Sonntag auf: Nachdem Journalisten die Bundesverwaltung im Rahmen von Recherchen über den Fall Crypto AG kontaktiert hatten, wurde der Schweizer Geheimdienst aktiv und suchte nach Dokumenten über die Aktivitäten der Firma. Fündig wurde er in einem Armeebunker.
Presseberichten zufolge bestätigen die Dokumente, dass Ex-Bundesrat Kaspar Villiger über die Spionageoperation der USA und des deutschen Geheimdiensts informiert war. Zwar dementierte Villiger umgehend und vehement. Doch über den Inhalt der Akten hinaus warf die Entdeckung viele Fragen auf: Warum wurden sie in einem Bunker aufbewahrt? Wer hat sie dorthin gebracht? Und warum wurden sie nicht im Bundesarchiv aufbewahrt, wie gesetzlich vorgeschrieben?
Bereits letzte Woche, als das Fernsehen SRF den Skandal um manipulierte Chiffriergeräte publik machte, war die Rede von Archivdokumenten: In diesem Fall handelte es sich um ein Dossier über die Firma Crypto AG, das ordnungsgemäss beim Bundesarchiv abgelegt worden, aber nicht mehr aufzufinden war.
In der Zwischenzeit kam das Dossier wieder zum VorscheinExterner Link. Laut dem Bundesarchiv war es 2014 nach einer Ausleihe zurückgegeben, dabei aber versehentlich in ein anderes Dossier und damit auch am falschen Standort abgelegt worden. Allerdings: Das Dossier steht noch unter Verschluss, ist also für die Öffentlichkeit noch nicht zugänglich.
Verschollene Dokumente
Diese beiden Episoden erinnern an andere Fälle von Nachlässigkeit mit Archivdokumenten in der jüngsten Vergangenheit. 2018 berichtete die Geschäftsprüfungs-Delegation des ParlamentsExterner Link (GPDel) beispielsweise über das Verschwinden von Dokumenten, die sich auf die Beziehung zwischen der geheimen Schweizer Militärorganisation P-26 und ähnlichen Organisationen im Ausland beziehen.
Diese Akten wurden nie gefunden. Gleichzeitig wurde entdeckt, dass andere Archivdokumente über diese geheime Organisation einem der P-26 nahestehenden Verein anvertraut worden und in einem der Öffentlichkeit nicht zugänglichen Museum in einem ehemaligen Armeebunker aufbewahrt waren.
Und Anfang der 2000er-Jahre ergab eine administrative Untersuchung, dass die Schweizer Nachrichtendienste, damals unter der Leitung von Peter Regli, eine grosse Anzahl von Archivdokumenten vernichtet hatten. In den folgenden Jahren befasste sich das Parlament wiederholt mit der Praxis der Speicherung und Archivierung von Geheimdienst-Dokumenten.
Bundesgesetz über die Archivierung
In der Schweiz ist seit 1998 das Bundesgesetz über die ArchivierungExterner Link in Kraft. Dieses regelt die Archivierung von Dokumenten der Regierung, des Parlaments und der Bundesverwaltung sowie den Zugang zu Archivbeständen.
Gemäss diesem Gesetz sind die staatlichen Stellen verpflichtet, alle nicht mehr benutzten Dokumente dem Bundesarchiv in Bern zu überlassen. Die entsprechende VerordnungExterner Link sieht die Lieferung eines Dossiers innerhalb von zehn Jahren ab dem Datum des letzten hinzugefügten Dokuments vor.
Die Dokumente unterliegen einer allgemeinen Sperrfrist von 30 Jahren. Die Frist beträgt jedoch 50 Jahre, wenn die Akten besonders schützenswerte personenbezogene Daten enthalten.
Der Bundesrat (Landesregierung) kann das Verbot der Einsichtnahme aus Gründen des öffentlichen oder privaten Interesses auch über die Sperrfrist hinaus (aber nicht unbegrenzt) ausdehnen.
Mehr Rechte für Forschende
Hat die Schweiz also ein Problem mit der Archivierung? Nein, sagt der Historiker Sacha Zala, Präsident der Schweizerischen Gesellschaft für GeschichteExterner Link (SGG). Es gebe jedoch einige spezifische Probleme. «Die Erfahrung zeigt, dass einige föderale Sicherheitsorgane wie die Armee, die Staatsanwaltschaft und die Nachrichtendienste sich oft berechtigt fühlen, das Archivierungsgesetz zu missachten», sagt Zala.
Deshalb verlangte die SGG bereits im Rahmen der Diskussionen um die P-26-Dokumente mehr Kompetenzen für das Bundesarchiv und eine Stärkung der Rechte der Forschenden.
«Das Bundesarchiv sollte die gleichen Kompetenzen erhalten wie die Eidgenössische Finanzkontrolle. Das bedeutet, es sollte die Möglichkeit haben, Kontrollen durchzuführen», sagt Zala. «Zudem sollte eine Schlichtungsstelle eingerichtet werden, um die Rechte von Forschenden im Zusammenhang mit Konsultationsersuchen zu schützen.»
Vom staatlichen zum privaten Datenschutz
Zala weist jedoch darauf hin, noch grössere Probleme seien oft das Ergebnis von Nachlässigkeit. «Die Aufgabe der Archivierung in der Verwaltung wird im Allgemeinen vernachlässigt, sie erhält nicht viele Ressourcen», sagt er. «Das ist schon bei der Archivierung von analogen Dokumenten der Fall. Ich wage nicht, daran zu denken, was mit digitalen Dokumenten alles passieren kann», so Zala.
Und dann gibt es noch einen weiteren Aspekt, der Forschende, die Archive konsultieren, zunehmend Schwierigkeiten bereitet: «Heute hat das Konzept des Schutzes, besonders von persönlichen Daten, enorme Ausmasse angenommen», sagt Zala. «Einst brachte der Staat Gründe vor, um sich gegen den freien Zugang zu Archivdokumenten zu wehren. Heute sind es meist persönliche Gründe.»
(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)
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