Israel-Palästina: Kann der Internationale Gerichtshof etwas ausrichten?
Während die Gewalt im Nahen Osten erneut aufflammt, hat die Generalversammlung der Vereinten Nationen den Internationalen Gerichtshof (IGH) um ein Gutachten zur Rechtmässigkeit der israelischen Besetzung Palästinas gebeten. Könnte eine Einschätzung des obersten Gerichts der Welt dazu beitragen, den jahrzehntealten Konflikt zu lösen?
«Es ist klar, dass die israelischen Behörden kaum zur Rechenschaft gezogen werden können», sagt die südafrikanische Juristin Navanethem Pillay. Sie ist Vorsitzende jener UNO-Kommission, die den Antrag für das Rechtsgutachten empfohlen hat.
«Es gibt viele gut recherchierte Berichte über Verstösse gegen das Völkerrecht. Die Frage ist also, warum sie seit 70 Jahren damit durchkommen und die Palästinenserinnen und Palästinenser und deren Recht auf Selbstbestimmung immer mehr unterdrücken.»
Tatsächlich gab es im Lauf der Jahre viele Rechtsgutachten, in denen die israelische Besetzung Palästinas als illegal bezeichnet wurde. Warum also sollte ein IGH-Gutachten einen Unterschied machen? Pillay weist darauf hin, dass es sich um das oberste Gericht der Vereinten Nationen handelt, das von den Mitgliedstaaten eingerichtet wurde.
«Wenn es einen Streit gibt, greift das Gericht ein und gibt ein Gutachten ab und interpretiert das internationale Recht, erinnert die Staaten an ihre Verpflichtungen», sagt sie gegenüber SWI swissinfo.ch.
«Ich denke, dass ein so langwieriger Streit, der nicht gelöst wurde und unserer Meinung nach immer schlimmer wurde, vom Gericht behandelt werden muss.»
Pillay, ehemalige Richterin an internationalen Strafgerichten und frühere UNO-Hochkommissarin für Menschenrechte, ist nun Vorsitzende der unabhängigen UNO-Untersuchungskommission für die besetzten palästinensischen Gebiete, einschliesslich Ostjerusalem und IsraelExterner Link. Diese wurde 2021 vom UNO-Menschenrechtsrat in Genf etabliert.
Namibia als Beispiel?
Im Bericht der Kommission an die UNO-Generalversammlung wird ein Gutachten des IGH aus dem Jahr 1971 erwähnt. Darin wurde die damalige Besetzung Namibias durch das Apartheidland Südafrika als rechtswidrig bezeichnet, was zur Beendigung dieser Besetzung beitrug.
«In Südafrika hatten wir keine Rechtsmittel, also wandten wir uns an die UNO», sagt Pillay. «Die USA unter Ronald Reagan und das Vereinigte Königreich unter Margaret Thatcher nutzten ihr Veto, um Sanktionen gegen Südafrika zu verhindern.»
Dies bezieht sich auf eine UNO-Resolution aus dem Jahr 1985, mit der Südafrika wegen der Verzögerung der Unabhängigkeit Namibias verbindliche Sanktionen auferlegt worden wären.
Pillay hält das IGH-Urteil zu Namibia für ein gutes Beispiel dafür, wie ein Rechtsgutachten dieses Gerichts helfen kann. «Wir wollen das Recht nutzen, so wie es in Namibia geschehen ist», sagt sie.
Das Ergebnis des IGH könne sie nicht voraussagen, aber «wenn der Gerichtshof dem Völkerrecht folgt, denken wir, dass es ein gutes Argument dafür gibt, warum die lange Besetzung von fast 60 Jahren gemäss Völkerrecht nie vorgesehen war. Sie war immer nur als vorübergehend gedacht.»
Der erste Bericht der Kommission an die UNO-Generalversammlung kommt zum Schluss, dass die israelische Besatzung palästinensischer Gebiete aufgrund ihrer Dauerhaftigkeit und der ständigen israelischen Versuche der Annexion palästinensischen Landes nunmehr unrechtmässig ist.
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IGH-Präzedenzfall zu Palästina
«Es gab bereits 2003 ein Ersuchen um ein IGH-Gutachten zu Palästina, das 2004 in ein Gutachten mündete», sagt Cecily Rose, Expertin für den IGH an der Universität Leiden in den Niederlanden.
Das Ersuchen betraf den Bau der israelischen Trennmauer in den besetzten palästinensischen Gebieten, darunter auch in und um Ost-Jerusalem. Der IGH entschiedExterner Link, dass die Mauer gegen das Völkerrecht verstösst und Israel sie abbauen und für die erlittenen Schäden aufkommen muss. Israel hat das Urteil ignoriert.
Der IGH werde wahrscheinlich einige Zeit brauchen, um ein neues Gutachten zu erstellen. Möglicherweise ein Jahr oder mehr, da die Verfahren langwierig seien und der IGH derzeit eine hohe Arbeitsbelastung habe, sagt Rose.
So ist der Gerichtshof derzeit mit einer Völkermordklage der Ukraine gegen RusslandExterner Link und einer weiteren gegen MyanmarExterner Link befasst, die Gambia im Namen der Organisation für Islamische Zusammenarbeit eingereicht hat.
Der IGH wird den UNO-Mitgliedstaaten und internationalen Organisationen eine Frist zur Einreichung von Stellungnahmen setzen. Laut Rose ist damit zu rechnen, dass etwa 30 oder mehr Staaten und Organisationen diese Möglichkeit ergreifen werden. Als Beispiele nannte sie das Verfahren zur israelischen Mauer und einen Antrag zur Unabhängigkeit des Kosovo.
Wer wird Israel unterstützen?
Israel habe nicht an dem Verfahren teilgenommen, das zur Stellungnahme von 2004 führte, so Rose. «Also bleibt abzuwarten, ob Israel dieses Mal teilnehmen wird.» Wenn Israel nicht kommt, wer wird dann für das Land argumentieren? Laut Rose ist die Abstimmung in der Generalversammlung wahrscheinlich ein guter Indikator dafür.
Die Abstimmung der Generalversammlung am 30. DezemberExterner Link spiegelte die anhaltende internationale Spaltung in diesem Konflikt wider. Die Resolution wurde mit 87 von 193 UNO-Mitgliedstaaten angenommen, 26 stimmten dagegen, 53 enthielten sich der Stimme.
Zu den Befürwortern gehörten alle arabischen und islamischen Staaten. Zu den Gegnern gehörten nicht nur Israel, sondern auch mächtige westliche Staaten, vor allem die USA.
Die USA sind eine traditionelle Unterstützerin Israels. Unter dem früheren Präsidenten Donald Trump erkannten sie Jerusalem als Israels Hauptstadt an. Und sein Schwiegersohn und Sonderberater Jared Kushner legte einen Plan vorExterner Link, nach dem Israel die Souveränität über alle seine Siedlungen und das strategische Jordantal behalten würde.
Zwar ist Trump nicht mehr am Ruder, und Joe Bidens Aussenminister Anthony Blinken besuchte am 31. Januar die Konfliktregion und sprach dort von der «Zweistaatenlösung».
Aber die USA haben eine einflussreiche jüdische Lobby im eigenen Land. Das zeigt die jüngste Kontroverse um das Harvard-Stipendium des ehemaligen Chefs von Human Rights Watch, Kenneth RothExterner Link, einem scharfen Kritiker Israels.
«Warum muss Palästina so hart kämpfen?», fragt Pillay. «Es hat viel politische Unterstützung, aber nicht von mächtigen Staaten.» Sie weist darauf hin, dass der IGH in dem Antrag auch aufgefordert wird, über die Zuständigkeiten der anderen UNO-Mitgliedstaaten zu entscheiden.
Wenn der IGH also entscheidet, dass die israelische Besatzung Palästinas rechtswidrig ist, so Pillay, «müssten sie handeln. Es ist ihr Gericht.»
Editiert von Imogen Foulkes. Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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