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Louise Arbour: “Schaut man sich den Menschenrechtsrahmen an, meint man, die Erde sei der Himmel”

Louise Arbour auf einer Illustration
Louise Arbour war von 2004 bis 2008 Menschenrechtskommissarin. Ville de Montréal / Sylvain Légaré. Illustration: Helen James / swissinfo.ch 

Louise Arbour hat einen Sitz am höchsten Gericht Kanadas aufgegeben, um 2004 UNO-Menschenrechtskommissarin zu werden. Porträt einer Vollblutjuristin.

Bevor es um Louise Arbour gehen soll, ein Wort zum Menschenrechtskommissar der Vereinten Nationen, der keine Interviews mehr geben kann: Sergio Viera de Mello.

Viera de Mello wurde 2002 von Kofi Annan ernannt, aber 2003 ist er, zusammen mit 21 weiteren UNO-Mitarbeitenden, bei einem Selbstmordattentat auf das UNO-Hauptquartier im Canal Hotel in Bagdad verstorben. Der Schock nach diesem Bombenattentat war gross.

Louise Arbour hat darum erst gezögert, als der damalige UNO-Generalsekretär Kofi Annan anrief, um “Sergio zu ersetzen”. Aber Arbour hatte damals in Kanada auch gerade erst ihren Dienst als Richterin am höchsten Gericht angetreten – keine Position, die man normalerweise nach ein paar Monaten verlässt.

Arbour erinnert sich, dass Kofi Annan aber “sehr überzeugend” war. Als sie die Position angenommen hat, sagt sie, war ihr bewusst, dass der Generalsekretär ihr “den Rücken stärkt”.

Im Jahr 2023 hat SWI swissinfo.ch einen Schwerpunkt auf den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte gelegt – diesem bahnbrechenden Grundsatzpapier, das das meistübersetzte Dokument der Welt sein soll.

Der derzeitige UNO-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, beschreibt die Erklärung als “ein transformatives Dokument… als Antwort auf die katastrophalen Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs”.

Die Allgemeine Erklärung wurde bereits 1948 verfasst. Trotzdem dauerte es bis 1994, bis mit dem Ecuadorianer José Ayala Lasso der erste UN-Kommissar ernannt wurde. Der Posten als Kommissar gilt seither vielen als der härteste Job der UNO.

Für unseren Podcast Inside Geneva haben wir sämtliche ehemaligen UNO-Hochkommissar:innen für Menschenrechte interviewt und gefragt, wie sie den Einfluss der Menschenrechtserklärung und ihres Amtes und die Entwicklung der Welt sehen.

Das Recht wird sich durchsetzen

Louise Arbour ist in erster Linie Juristin. Bevor sie ihren Posten bei der UNO antrat, gehörte sie auch den Internationalen Sondertribunalen für das ehemalige Jugoslawien und für Ruanda an.

“Die Arbeit, die ich sowohl für das Tribunal für das ehemalige Jugoslawien als auch für Ruanda geleistet habe, bestätigte für mich die Bedeutung des Rechts”, erinnert sich Arbour.

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Vielleicht am bekanntesten ist Arbour dafür, dass sie den serbischen Präsidenten Slobodan Milošević wegen Kriegsverbrechen angeklagt hat, der noch vor dem Urteil 2006 verstorben ist.

“Wenn ich nicht fest daran geglaubt hätte, dass er eines Tages in Den Haag vor Gericht stehen würde, hätte ich meine Zeit nicht mit dieser wirklich harten Arbeit verschwendet. Das Gesetz ist sehr geduldig.”

Innere und äussere Herausforderungen

Für Arbour war es mit verschiedenen Herausforderungen verbunden, UNO-Menschenrechtskommissarin zu werden. Als Menschenrechtsbeauftragte hatte sie keine Strafverfolgungsbefugnisse.

Stattdessen muss man in der Position die internationalen Menschenrechte hochhalten, indem man die Regierungen an ihre Verpflichtungen und Versprechen erinnert und Menschenrechtsverstösse im Blick behält.

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Als Arbour ihr Amt antrat, schienen gerade jene Länder, die sich seit 1945 in Menschenrechtsfragen an die Weltspitze gesetzt hatten, zurückzurudern.

Die Vereinigten Staaten richteten das Guantanamo-Gefängnis ein. Der “Krieg gegen den Terror”, so meinten führende Politiker:innen der USA, bedeute, dass Prinzipien wie die Genfer Konvention oder das absolute Folterverbot nicht mehr relevant seien.

“Es waren sehr schwierige Zeiten”, sagt Arbour. “2004, im Nachgang zu den Terroranschlägen vom 11. September 2001, begann sich eine neue, gefährliche, unbekannte Welt zu entfalten, mit vielen Unwägbarkeiten, auch in Bezug auf die Menschenrechte.”

Gleichzeitig sah sich Arbour mit einer UNO-Struktur konfrontiert, die sie als bürokratisch und schwerfällig wahrnahm. “Wir waren zu weit weg von der Arbeit im Feld”, erinnert sie sich.

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Heute führt die UNO in vielen Teilen der Welt Beobachtungsmissionen für Menschenrechte durch, unter anderem in der Ukraine und in Afghanistan.

Für Arbour ist dies befriedigend. “Die Arbeit im Feld ist eine grosse Herausforderung für die Mitgliedstaaten, wissen Sie, willkommen ist man nirgends… vor Ort ist man trotzdem.”

Heute ist Arbour der Ansicht, dass die beste Art, den 75. Jahrestag der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu feiern, darin besteht, sich an ihre Grundprinzipien zu halten. Die Juristin Arbour ist überzeugt, dass Rechte dazu da sind, eingehalten und umgesetzt zu werden.

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“Die Blaupause der Menschenrechte ist es mehr als wert, verteidigt zu werden”, sagt sie. “Wenn man von einem anderen Planeten käme und sich den Menschenrechtsrahmen ansähe, die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte, alle Verträge, die Konventionen, die Arbeit der Vertragsorgane, würde man meinen, man sei im Himmel gelandet.”

Warum also sei die Erde nicht der Himmel, fragt sich Arbour.

Übertragung aus dem Englischen: Benjamin von Wyl

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