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Schweizer Kurzfilm greift nach dem Oscar

Der Mann, der eine falsche Entscheidung trifft: Roeland Wiesnekker in der Hauptrolle von "Auf der Strecke". khm.de

Sonntagnacht findet die Oscar-Verleihung statt: Nominiert ist auch der Kurzfilm "Auf der Strecke" des Schweizer Regisseurs Reto Caffi. swissinfo sprach mit ihm im Vorfeld über die begehrte Trophäe, gewalttätige Jugendliche und das Erfolgsgeheimnis seines Films.

Schweizer Oscar-Gewinner sind rar: Das letzte Mal, dass ein Schweizer von Hollywood einen Oscar nach Hause brachte, war vor 18 Jahren. Damals wurde Xavier Koller für sein Flüchtlingsdrama “Reise der Hoffnung” in der Kategorie “Bester fremdsprachiger Film” mit der renommierten Trophäe ausgezeichnet.

Der letzte Schweizer Film, der für die Oscars nominiert wurde, war 2002 der Dokumentarfilm “War Photographer” von Christian Frei.

swissinfo: Gratulation nochmals für die Oscar-Nomination. Waren Sie überrascht, als Sie hörten, dass Ihr Film nominiert wurde?

Reto Caffi: Überrascht ist das falsche Wort – ich habe es gehofft. Der Film figurierte auf der “Short List”, damit stand die Chance 50 zu 50. Als er nominiert wurde, habe ich mich extrem gefreut.

swissinfo: Was gab Ihnen die Idee für diese Geschichte?

R.C.: Ich schrieb das Drehbuch zusammen mit einem Freund. Wir dachten, es wäre interessant, die Geschichte eines Mannes zu erzählen, der aus Schuldgefühlen nicht mit der Frau zusammen sein kann, die er liebt. Uns gefiel dieses klassische Thema der griechischen Tragödie: einander so nah und gleichzeitig so fern zu sein.

Wir fragten uns, wie wir diese Thematik interessant umsetzen könnten. Wir wollten zum Beispiel nicht, dass er seine Freundin versehentlich mit dem Auto überfährt und Fahrerflucht begeht. Wir suchten eine Geschichte, die sich in einer Grauzone abspielt, wo die Zuschauer sich selbst fragen, “Was hätte ich in diesem Fall gemacht?”.

So kamen wir schliesslich auf die Problematik der Jugend- und der öffentlichen Gewalt und die Frage der Zivilcourage – man kann damit die Zuschauer direkt ansprechen, sie werden automatisch in die Geschichte hineingezogen.

swissinfo: “Auf der Strecke” hat über 50 Preise gewonnen. Wie erklären Sie sich den Erfolg?

R.C.: Es ist eine klassische Liebesgeschichte – die Leute fühlen sich von Liebesgeschichten leicht angesprochen.

Gleichzeitig ist da dieser uns bestens bekannte Vorfall: Jeden Tag kann man in der Presse von öffentlichen Schlägereien lesen. Dazu kommt noch das Thema der Videoüberwachung. Es ist eine zeitlose Geschichte, hochaktuell verpackt.

swissinfo: Hat der Film etwas typisch Schweizerisches?

R.C.: Es ist in dem Sinne ein Schweizer Film, als er unter anderem in der Schweiz gedreht wurde. Und Schauspieler und Regisseur aus der Schweiz stammen. Doch die Geschichte an sich wirkt sehr universal.

swissinfo: “Auf der Strecke” war Ihr Abschlussfilm der Kunsthochschule für Medien Köln. Weshalb gingen Sie nach Deutschland? Ist die Schweiz kein guter Ort für junge Filmemacher?

R.C.: Ich wollte ins Filmgeschäft, und diese Schule bot einen zweijährigen Studiengang an.

Für mich als Mittdreissiger war es viel einfacher, als Student das Geld für Kurzfilme zusammenzubringen. Ich hatte die Wahl, 100’000 Franken selbst für einen Kurzfilm aufzuwenden oder für 100’000 Franken zwei Jahre eine Ausbildung und zwei Filme zu machen – ich entschied mich für die Schule.

swissinfo: Wie verliefen die Dreharbeiten?

R.C.: Es war sehr einfach, es war alles gut vorbereitet. Wir hatten Geld und gute Schauspieler, es lief alles reibungslos.

Am schwierigsten war es, Jugendliche für die Schlägerei-Szene in der U-Bahn zu finden. Die 50 bis 60 jungen Schauspieler, die ich zum Casting einlud, waren alle nette Mittelklasse-Jungs. Das wirkte nicht glaubhaft.

So schaute ich mich schliesslich in einem psychotherapeutischen Programm in Basel um, wo gewalttätige Jugendliche behandelt werden. Ich fand dort einen der Jungs, die im Film mitspielen. Die Dreharbeiten mit ihm waren überhaupt kein Problem, er verlieh der Szene einfach mehr Authentizität. Der Junge will jetzt Stuntman werden!

swissinfo: Was bringt eine Oskar-Nomination?

R.C.: Was das Geld anbelangt, nichts! Aber es bringt sehr viel PR. Der Film hatte schon vorher eine grosse Plattform, aber das jetzt ist nochmals etwas anderes.

Es ist eine grosse Ehre, und ich denke, für die ganze Filmcrew ist es sehr aufregend, dass ein kleiner Studentenfilm es bis in die Oscar-Nominationen schaffen kann. Das ermutigt sehr, auch andere Filmmacher.

swissinfo: Sie werden an der Oscar-Verleihung in Los Angeles dabei sein. Könnten Sie sich vorstellen, in Hollywood zu arbeiten?

R.C.: Ehrlich gesagt, tendiere ich für Europa. Ich finde England ein wirklich interessantes Filmemacher-Land.

Doch wenn ich ein gutes Drehbuch aus den USA erhalten würde, würde ich es wahrscheinlich annehmen. Im Moment hängt alles vom Drehbuch ab – und ich hoffe, ich werde von nun an mehr Angebote erhalten.

Ich vertraue auf meine eigenen Ideen – doch wenn sich eine Gelegenheit bietet, muss man sie nutzen.

swissinfo: Wie grosse Chancen rechnen Sie sich für den Oscar aus?

R.C.: Ich habe keinen der anderen Filme gesehen, deshalb ist es schwierig zu sagen. Doch ich bin etwas besorgt, was den anderen deutschsprachigen Film (Anm. der Red. “Toyland”) anbelangt. Der Zweite Weltkrieg und die Judendeportationen zeigen immer eine grosse Wirkung auf die Academy-Mitglieder.

swissinfo-Interview: Thomas Stephens
(Übertragung aus dem Englischen: Corinne Buchser)

Reto Caffi ist 1971 in Zürich geboren. Aufgewachsen ist er in Bern.

Er studierte englische Literatur und Kommunikations-Wissenschaft an der Universität Freiburg und arbeitete danach als Journalist unter anderem für das Schweizer Fernsehen.

Von 2004 bis 2007 studierte er an der Kunsthochschule für Medien Köln.

1995 debütierte er mit dem Kurzfilm “Quickie”. Es folgten “Leos Freunde” (1996), “Bus-Stop 99” (2000), “Männer am Meer (2005) und “Auf der Strecke”.

Der Film handelt von einem Warenhausdetektiv, der sich in eine Verkäuferin verliebt, die er heimlich beobachtet.

Als er eines Abends Zeuge wird, wie ein vermeintlicher Nebenbuhler in der U-Bahn von Jugendlichen verprügelt wird, greift er nicht ein – mit fatalen Folgen.

Der Film erzählt die Geschichte eines gutmütigen Mannes, der eine falsche Entscheidung trifft, wie Reto Caffi gegenüber swissinfo sagt. “Es geht um eine von Schuldgefühlen belastete unmögliche Liebesgeschichte”, so der Regisseur.

Mit dem 30-minütigen Kurzfilm “Auf der Strecke” hat der 37-jährige Schweizer Filmemacher Reto Caffi 2007 sein Studium an der Kunsthochschule für Medien Köln abgeschlossen.

“Auf der Strecke” wurde an über 100 Festivals gezeigt und hat bereits mehr als 50 Preise gewonnen, unter anderem den Schweizer Filmpreis 2008, den Grand Prix 2008 am Internationalen Kurzfilmfestival von Clermont-Ferrand, den Lutin 2008 des Besten Europäischen Kurzfilms und den Student Oscar des Besten ausländischen Schulfilms.

Nun tritt die Produktion des Films, die rund 100’00 Franken kostete und rund 11 Tage dauerte, an der 81. Oscar-Preisverleihung in der Kategorie “Best Live Action Short Film” mit vier weiteren nominierten Kurzfilmen ins Rennen um die prestigeträchtige Filmtrophäe.

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