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Die letzte Reise des “Vaters vom Himalaya”

Augusto Gansser während einer Expedition in Tibet, 1936. Keystone/ETH-Bibliothek Zürich, Bildarchiv

Der Schweizer Himalaya-Pionier Augusto Gansser ist am 9. Januar im Alter von 101 Jahren gestorben. Als einer der ersten Geologen hat er die geheimnisvollen Regionen Tibets und Bhutans erforscht.

Geolog, Kartograf, Forscher, Alpinist, Wissenschafter, Professor und Fotograf: Augusto Gasser, der kürzlich in Lugano gestorben ist, erfüllte fast jeden Moment seines Lebens mit Leidenschaft.

Zusammen mit Jacques Piccard oder Nicolas Bouvier gehört Gansser zu jenen Schweizer Reisenden und Abenteurern, die im 20. Jahrhundert die Schweiz international bekannt gemacht haben. Und vor allem auch die Welt in die Schweiz getragen haben.

“Er liebte das Abenteuer, die Natur und die Berge. Er entdeckte Berge, von denen man noch gar nichts wusste”, sagt einer seiner sechs Söhne, Luca Gansser, gegenüber swissinfo.ch. In Grönland gebe es einen Berg, der Lugano heisse, und in Kolumbien einen Picco Toti – dem Namen von Ganssers Ehefrau.  

Oft habe sein Vater gesagt, er fühle sich “als Gefangener seines eigenen Körpers”, sagt Luca Gansser .

“Verraten” von den blauen Augen

1910 in Mailand als Sohn eines Schweizer Vaters und einer deutschen Mutter geboren, studierte Augusto Gansser an der Universität Zürich Geologie.

Noch vor Ende seines Doktorats liess er sich von einem Abenteuer mitreissen und nahm an einer Expedition nach Grönland teil. “Sie reisten mit einem Dreimaster und blieben einige Monate im Eis stecken”, erzählt Luca.

1936 unternahm der junge Forscher jene Reise, die ihn bekannt gemacht hat, nämlich die erste Schweizer Geologen-Expedition in den Himalaya. Schon bald jedoch löste er sich von der Gruppe und erkundete die Grenzregion zwischen Indien und Tibet auf eigene Faust. 

“Er war einer der ersten Ausländer, die den Tibet betraten”, erinnert sich Luca. “Er musste illegal einreisen und verkleidete sich als buddhistischer Pilger.” Damals war Tibet ein britisches Protektorat und Ausländern unter Todesstrafe verboten. 

“Das einzige, was ich nicht verbergen konnte”, erzählte Augusto in einem Interview mit dem Corriere del Ticino, “waren meine blauen Augen. “Aber unter meinem Pilgermantel versteckte ich tausend Dinge: Hammer, Zirkel, Kompass…”  

“Baba Himalaya”

Während dieser Himalaya-Expedition am 6638 Meter hohen Mount Kailash machte Augusto eine seiner wichtigsten Entdeckungen. Am Fuss dieses heiligen Berges entdeckte er die geologische Nahtstelle zwischen der Indischen und der Eurasischen Platte. 

Augusto Gansser sei einer der ersten Schweizer gewesen, die sich mit den tektonischen Platten befasst haben, sagt Jean-Pierre Burg vom Geologieinstitut an der ETH Zürich. “Sein Fund und sein Pionierwerk am Himalaya dürften ihn wohl verewigt haben.” 

Gansser schrieb zahlreiche Werke über die Entstehung der Berge, der Landschaften und der Bevölkerung der Himalaya-Regionen. 1964 publizierte er “Geology of the Himalayas” – ein Standardwerk der Geologie.

Dank diesem Beitrag hat ihm die pakistanische Universität Peschawar 1983 den Ehrennamen “Baba Himalaya”, Vater des Himalaya, verliehen. Seine Forschungarbeit bescherte ihm auch die Freundschaft des damaligen tibetischen Herrschers Jigme Dorij Wangchuck, um die ihn viele beneideten.

In Persiens Ölfeldern

Ausser im Himalaya forschte Gansser in zahlreichen anderen Regionen der Welt, vom Mittleren Osten bis Lateinamerika.

In Kolumbien arbeitete er für den Ölmulti Shell. Seine Ehefrau half ihm, geologisches Kartenmaterial zu erstellen. In den 1950er-Jahren fand man ihn am Hof des Schahs von Persien. Dieser ernannte ihn zum Chefgeologen der staatlichen iranischen Erdölgesellschaft.

1956 endete eine seiner Entdeckungen in einer Katastrophe. Während einer Bohrung kam es zu einem plötzlichen Anstieg des Rohrdrucks. Millionen von Tonnen Rohöl flossen aus und brachten die Natur aus dem Gleichgewicht.  

Gansser war entsetzt vom Anblick “so vieler Wasservögel, die sich auf der Oberfläche der Ölseen niederliessen, weil sie dachten, es handle sich um Wasser”, wie er gegenüber dem Corriere del Ticino erzählte.  

Um die Katastrophe einzudämmen, beschlossen die Ingenieure, das Rohöl abzuleiten und anzuzünden. “Es handelte sich um den grössten je von Menschenhand ausgelösten Brand”, erinnert sich Gansser. 

Elixier für ein langes Leben

Protagonist einer Zeit, als die Wissenschaft noch mit der Faszination für unbekannte Länder verschmolz, ist Gansser diesen Januar unbemerkt von der Öffentlichkeit am Ende seiner Reise angelangt.

Eine Reise, die über ein Jahrhundert gedauert hat, und die sich vielleicht mit einer Anekdote erklären lässt, die Gansser selber erzählt hat: “Beim Berg Kailash schenkte mir der Lama des Klosters, in dem ich abgestiegen war, Pillen für eine langes Leben. Ich bin ihm heute noch dankbar dafür, denn offenbar haben sie ja bestens gewirkt…”

Wird am 28. Oktober 1910 in Mailand geboren. Der Vater ist Schweizer, die Mutter Deutsche.

Studiert Geologie an der Uni Zürich.

1934: Teilnahme an einer Expedition nach Ostgrönland  unter der Leitung des Dänen Lauge Koch. 

1936: Teilnahme an der ersten Schweizer Forschungsreise in den Himalaya, die von Arnold Heim geführt wird.

Anschliessend führt er die Reise auf eigene Faust für eigene Recherchen im Tibet fort.  

Von 1938 bis 1946 arbeitet er zusammen mit seiner Frau Linda Biaggi für den Ölmulti Shell in Kolumbien und später auf der Insel Trinidad.

Von 1950 bis 1957 wirkt er als Chefgeologe in der staatlichen iranischen Erdölgesellschaft.  

1958: Rückkehr in die Schweiz und Ernennung zum Ordinarius für Geologie an der Eidgenössischen Technischen Hochschule in Zürich. Dort bleibt er bis 1977. 

In den 1960er- und 70er-Jahren reist er mehrere Male nach Bhutan, wo er die erste kartografische Vermessung des Landes vornimmt.  

Gekrönt wird seine Laufbahn durch zahlreiche Ehrungen, zum Beispiel jener der Uni Peschawar als “Vater des Himalaya”.

Mitglied renommierter Institutionen wie der National Academy of Sciences der Vereinigten Staaten und der Accademia dei Lincei Rom.

Er ist am 9. Januar in seiner Tessiner Wohnung in Massagno-Lugano gestorben.

(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)

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