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Autismus: Schweiz muss Gleichgültigkeit überwinden

Autistische Kinder haben Probleme bei der sozialen Interaktion. Keystone Archive

Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern liegt die Schweiz laut einer Studie weit im Hintertreffen, was die Behandlung von Menschen mit Autismus angeht.

Insbesondere müssten Beratungs- und Unterstützungs-Angebote für Eltern ausgebaut werden, fordern die Autoren.

Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die sich auf die Kommunikation einer Person mit den Menschen ihrer Umgebung auswirkt. Konkret haben autistische Kinder und Erwachsene Schwierigkeiten mit der alltäglichen sozialen Interaktion. Begleitet wird das Leiden oft auch von Lernschwäche. Eine Heilung der Krankheit gibt es bis heute nicht.

“Autistische Menschen haben ein markantes Defizit, zwischenmenschliche Beziehungen aufzunehmen”, sagt Hans-Christoph Steinhausen. Er ist Leiter des Zentrums für Kinder- und Jugendpsychiatrie am Universitätsspital Zürich und Verfasser einer Studie über Autismus in der Schweiz, die er jüngst in Buchform publiziert hat. Seine Forschung beruht auf einer Umfrage, die er im Jahre 2001 zum Thema gemacht hatte.

“Wir haben erst herausgefunden, dass es ein sehr breites Spektrum von Autismus-Krankheitsgraden gibt. Das führte zur Erkenntnis, dass die Verbreitung viel stärker ist als bisher angenommen”, so Steinhausen gegenüber swissinfo.

Grundlagen zusammentragen

Verlässliche Zahlen, wieviele Menschen in der Schweiz an Autismus leiden, gibt es bis heute nicht. Der Anteil wird auf 0,5 bis 0,8% der Bevölkerung geschätzt.

Die Ziele der Untersuchung waren sowohl quantitativer als auch qualitativer Art: Einerseits ging es darum, genauere Zahlen bezüglich der Verbreitung von Autismus in der Schweiz zu sammeln. Andererseits wurde auch der Stand ermittelt, auf dem sich das entsprechende Behandlungs- und Betreuungsangebot in der Schweiz befindet.

“Überraschenderweise fanden wir heraus, dass die Schweiz den Standard von Skandinavien, den Niederlanden, Deutschland und England nicht erreicht”, so Steinhausen.

“Die Öffentlichkeit ist ungenügend über Autismus informiert, und die Hilfe, welche die Eltern erhalten, ist ebenfalls ungenügend”, so sein weiteres Fazit. Besonders Eltern von Betroffenen hätten sich unzufrieden mit der Unterstützung gezeigt, die sie von Fachleuten und dem Staat erhalten.

Elternverein stimmt Studie zu

Brigitt Germann vom Elternverein Autismus Schweiz zeigte sich denn auch mit dem Fazit der Studie zufrieden. “Für uns ist sehr wichtig, dass der Bericht die Situation in der Schweiz nicht beschönigt.”

Es sei offensichtlich, dass es eine grosse Zahl von autistischen Menschen gebe, die nicht die nötige Behandlung erhielten. “Es ist schwer zu verstehen, weshalb wir in diesem Land einen derart grossen Rückstand ibei der Behandlung von Autismus haben”, so Germann.

Insel



Grund dafür könnte die mangelnde Aufgeschlossenheit sein, welche die Schweiz gegenüber den neuesten Forschungs-Ergebnissen aus dem Ausland zeigt.

“Die Kinderpsychiatrie hat es verpasst, mit der Forschungs-Entwicklung in anderen Ländern Schritt zu halten”, so Steinhausen. Generell sei das bisherige Interesse am Krankheitsbild Autismus nicht sehr gross gewesen.

Keine einheitliche Stimme

Verantwortlich dafür sei auch die Aufteilung der Schweiz in verschiedene Sprachregionen, glaubt der Zürcher Experte.

“In den USA stehen sofort 100’000 Leute hinter einem, wenn man eine Idee hat, das Leben behinderter Menschen zu verbessern.” In einem kleinen Land wie der Schweiz, wo zudem noch verschiedene Sprachen gesprochen würden, hätten es Interessenvereinigungen ungleich schwerer, sich Gehör zu verschaffen

Gemäss der Studie fallen auch viele Kinder durch das Diagnose-Netz. “Bei einer grossen Anzahl Kinder, die Symptome von Autismus zeigen, wird fälschlicherweise eine geistige Retardierung diagnostiziert”, sagt Steinhausen. Demnach erhielten sie auch nicht die spezifische Behandlung, die ihrem Krankheitsbild entsprechen würde.

Kampagne

Beim Elternverein Autismus Schweiz hofft man, dass der Bericht ein erster Schritt ist, die Öffentlichkeit im Lande vermehrt über das Krankheitsbild Autismus zu sensibilisieren.

“Die Studie könnte der Auftakt zu einer neuen Kampagne mit dem Ziel sein, die Situation autistischer Menschen in der Schweiz zu verbessern”, hofft auch der Autor. Gefragt sind laut Steinhausen vor allem spezialisierte Zentren. “Dort können frühe Diagnosen gemacht und Menschen mit Autismus fachgerecht behandelt werden.”

swissinfo, Ramsey Zarifeh
(Übertragung aus dem Englischen: Renat Künzi)

Autismus ist eine Entwicklungsstörung, die sich meist in den ersten drei Lebensjahren bemerkbar macht.
Knaben sind öfter von Autismus betroffen als Mädchen.
Autisten haben Probleme mit der sozialen Interaktion (verbale und nonverbale Kommunikation).
Autismus kann bis heute nicht behandelt werden.

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