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Die Klimapolitik der Schweiz verletzt die Menschenrechte

die Klimaseniorinnen werden nach dem Urteil von Journalist:innen umworben
Die Klimaseniorinnen haben ein historisches Urteil erreicht. Jean-Christophe Bott/Keystone

Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg hat am Dienstag zugunsten des Vereins Klimaseniorinnen entschieden und die Schweiz wegen Verletzung der Menschenrechte im Umweltbereich verurteilt. Ein beispielloses Urteil, das weltweit zur Rechtsprechung werden wird.

“Heute ist ein Tag der Freude, der Erleichterung und der starken Emotionen”, sagt Norma Bargetzi-Horisberger, Mitglied der KlimaseniorinnenExterner Link, gegenüber SWI swissinfo.ch.

Acht Jahre nach dem Beginn eines Rechtsstreits gegen ihr eigenes Land, das beschuldigt wird, nicht genug zur Bekämpfung der globalen Erwärmung zu tun, können die im Verein verbündeten Frauen im Alter von mindestens 64 Jahren feiern. 

Am Dienstag gab der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) der Beschwerde statt und verurteilte die Schweiz wegen Verletzung des Rechts auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8 der Europäischen Menschenrechtskonvention).

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Das heutige UrteilExterner Link ist beispiellos. Es ist das erste Mal, dass der EGMR einen Staat wegen unterlassener Massnahmen gegen den Klimawandel verurteilt und den Schutz der Menschenrechte mit der Einhaltung von Umweltauflagen verknüpft.

“Zum ersten Mal erkennt ein internationales Gericht an, dass zu den Menschenrechten auch das Recht auf Klimaschutz gehört”, sagt Anja Grada, Mitglied der Klimastreik-Bewegung. “Es wird deutlich, dass die Schweizer Klimapolitik gegen die grundlegendsten Menschenrechte verstösst.”

Das Urteil ist eine klare Bestätigung, dass “die Staaten die Pflicht haben, ihre Bürger vor dem Klimawandel zu schützen und ihr Wohlergehen zu sichern”, kommentiert Catherine Higham vom Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment in London auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.

“Kritische Lücken” in der Schweizer Klimapolitik

Siofra O’Leary, Präsidentin des EGMR, erklärte, die Schweiz habe keine ausreichenden nationalen Massnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels umgesetzt, wie es das Pariser Klimaabkommen verlangt.

Der Richter stellte mehrere “kritische Lücken” im Prozess der Schweiz zur Umsetzung eines angemessenen Rechtsrahmens fest. Dazu gehört die Unfähigkeit, die Treibhausgasemissionen zu quantifizieren, die das Land noch ausstossen kann, um die globale Erwärmung auf 1,5°C über dem vorindustriellen Niveau zu begrenzen.

Der EGMR entschied auch in zwei anderen Fällen. Er erklärte die Klage einer Gruppe junger Portugies:innen gegen ihren eigenen Staat und 31 weitere Staaten, darunter die Schweiz, für unzulässig. Zum gleichen Ergebnis kam er bei der Klage des ehemaligen Bürgermeisters der französischen Gemeinde Grande-Synthe, der die französische Regierung wegen ihrer Untätigkeit im Klimaschutz verurteilen wollte.

“Wir sind traurig über den Ausgang des Falles der jungen Portugiesen. Aber wir haben sie umarmt und ihnen gesagt, dass unser Sieg auch für sie ist”, sagt Norma Bargetzi-Horisberger.

Acht Jahre Kampf gegen die Schweizer Klimapolitik

Im Jahr 2016 hatten die Klimaseniorinnen den Schweizer Behörden vorgeworfen, eine Klimapolitik mit unzureichenden Zielen und Massnahmen zu verfolgen, die ihr Recht auf Leben verletze. Ältere Menschen sind anfälliger für die Auswirkungen der Klimakrise und insbesondere für Hitzewellen. Einigen Studien zufolge sind Frauen stärker betroffen als Männer.

Das Bundesverwaltungsgericht und später das Bundesgericht, die höchste juristische Instanz in der Schweiz, hatten die Forderung nach ehrgeizigeren Emissionsreduktionszielen abgelehnt.

Im Jahr 2020 beschloss der Verein mit Unterstützung von Greenpeace Schweiz, sich an den EGMR zu wenden. Dieser beschloss, den Fall anzunehmen. Um ihr Anliegen zu unterstützen, prangerten die älteren Frauen an, dass die Schweiz mehrere in der Europäischen Menschenrechtskonvention verankerte Rechte verletze, darunter das Recht auf Leben (Artikel 2) und das Recht auf Achtung des Privat- und Familienlebens (Artikel 8).

Die Tatsache, dass der EGMR im März 2023 zum ersten Mal in seiner Geschichte eine öffentliche Anhörung zu einem Klimafall durchführte, hatte Hoffnungen geweckt. Aber nicht einmal die optimistischsten Menschen hätten sich ein so positives Urteil wie das heutige vorstellen können.

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“Ein Präzedenzfall mit weitreichenden Folgen”

Das Urteil des EGMR ist bindend. Das bedeutet, dass die Schweiz verpflichtet ist, es zu befolgen. “Wir erwarten von Bundesrat und Parlament, dass sie alles tun, um das globale Ziel, den Temperaturanstieg auf 1,5 °C zu begrenzen, zu erreichen”, wird Jonas Kampuš von der Zürcher Sektion von Climate Strike in einer Mitteilung zitiert.

Die Schweiz muss endlich handeln”, schrieb der WWF auf Twitter. Der Sieg der Klimaseniorinnen sei ein Sieg für alle Generationen, so die Umweltorganisation. “Es ist ein Präzedenzfall mit wichtigen Konsequenzen.”

“Es handelt sich um ein wichtiges und sehr detailliertes Urteil, das die Schweiz zum Handeln verpflichtet”, sagt Alain Chablais, Vertreter des Bundesrates beim EGMR, gegenüber der Agentur Keystone-ATS.

Globale Konsequenzen

Für Joana Setzer vom Grantham Research Institute on Climate Change and the Environment hat der Sieg im Fall Klimaseniorinnen “monumentale” Bedeutung. “Das historische Urteil des EGMR stellt nicht nur einen Präzedenzfall im Umwelt- und Klimarecht dar, sondern unterstreicht auch einen bedeutenden Wandel in der globalen Rechtslandschaft in Bezug auf den Klimawandel”, schreibt sie in einer E-Mail an SWI swissinfo.ch.

Das Urteil hat einen direkten Einfluss auf die 46 Mitgliedsstaaten des Europarats, aber seine Auswirkungen reichen laut Setzer auch weltweit. “Das Urteil ist ein entscheidender Massstab für Gerichte auf der ganzen Welt bei der Auslegung der Menschenrechtsverpflichtungen von Staaten in Bezug auf Klimaschutzmassnahmen”, sagt sie.

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Editiert von Balz Rigendinger. Übertragung aus dem Italienischen von Janine Gloor

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