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Mit harten Methoden zu weichen Zielen

Erleichterung bei den Angehörigen in Goumois. Die in der Höhle Bief Paroux Eingeschlossenen leben und sind gefunden. Keystone

Die sieben Studenten und ihre Leiterin in der überschwemmten Höhle in Frankreich waren auf einer "erlebnis-pädagogischen" Exkursion. Erlebnispädagogik ist zur Zeit in Mode. Sie sei eine therapeutische Massnahme bei verhaltensauffälligen Jugendlichen.

“Immer dann, wenn sich Krisen in der Gesellschaft manifestieren, wenn Lösungen zur Bekämpfung ökonomischer und sozialer Probleme an der Mehrheits-Fähigkeit in den Parlamenten scheitern und sich Unzufriedenheit und (Staats-)Verdrossenheit breit machen, suchte die junge Generation nach alternativen Formen der Lebensgestaltung und Selbstverwirklichung”. Das sei immer so gewesen, sagt, schreibt und glaubt das “Deutsche Zentrum für Erlebnispädagogik” an der Universität Lüneburg.

Was ist Erlebnispädagogik

Sie verstehe sich als Alternative und Ergänzung etablierter Erziehungs- und Bildungs-Einrichtungen. Sei in der Reformpädagogik verwurzelt. Die Erlebnis-Pädagogik geriet nach dem Zweiten Weltkrieg fast völlig in Vergessenheit. Sie gewinne in dem Masse an Bedeutung, je mehr sich Schul- und Sozialpädagogik kreativen Problemlösungen verschliesse.

Allerdings, so das Institut in Lüneburg, werde der Begriff heute fälschlicherweise fast immer im Zusammenhang mit Outdoor-Aktivitäten in Zusammenhang gebracht. Das trifft auch auf die Gruppe zu, welche in die Höhle “Bief Paroux” im französischen Jura, unweit der Schweizer Grenze stieg.

Aber auch in künstlerischen, musischen, kulturellen und auch technischen Bereichen gibt es vielfältige erlebnispädagogische Entwicklungs- und Gestaltungsmöglichkeiten, sagt man in Lüneburg.

Er-leben statt Reizüberflutung

Was will also die Erlebnispädagogik. Was soll da “erzogen” werden? Die Verfechter dieser Art von Pädagogik sagen, dass sie eine nachhaltige Wirkung bei den Jugendlichen erzeuge, weil man Dinge wieder unmittelbar erlebe.

Durch die ständigen Reizüberflutungen durch Medien und Umwelt könnten die Jugendlichen heute vieles nicht mehr erleben und unmittelbar erfahren. Anstelle eigener Abenteuer tritt der Fernseh- oder Filmheld, die fiktive Welt.

Die Erfahrungen, welche die jungen Leute heute in Schule, Jugendarbeit und vor allem in der Freizeit machen, seinen oft wirklichkeitsfremde “Laborsituationen”, und es falle schwer, diese mit dem Kopf wahrgenommenen Erfahrungen in ihre Alltagswelt zu übertragen. Die Bewegungs-Spielräume für Jugendliche sind knapper geworden, doch brauchen Jugendliche solche Erfahrungsräume, die unmittelbare, alltagsrelevante Erfahrungen mit Ernstcharakter anbieten.

Kurz: ein besseres Verstehen von Gruppen-Konflikten, des eigenen Verhaltens und der Grenzen, das Auseinandersetzen mit der körperlichen Leistungsfähigkeit sind für die Persönlichkeits-Bildung wesentlich. Dazu gehören Grenzerfahrungen – die aber nicht lebensbedrohlich sind oder gesellschaftlich sanktioniert werden – und Gruppen-Interaktionen nach dem Motto: wie erlebe ich mich, und wie erlebe ich die anderen.

Das muss man lernen

Wie alles, das verloren gegangen ist und das man theoretisch wieder aufleben lassen muss, ist auch die Erlebnispädagogik zum Schulfach geworden. Als man noch ungehindert auf Strassen spielen, im Wäldern herumtollen und problemlos von der Schule oder um Mitternacht aus dem Tanzschuppen nach Hause laufen konnte (auch als Frau), brauchte man keine Erlebnispädagogik. Man lebte sie im Alltag.

Fazit

Heute muss sie gelernt werden, damit man sie weitergeben kann. Steigen nun angehende Sozialarbeiterinnen und Sozialarbeiter in eine Höhle, dann versuchen sie die Erfahrung zu lernen, die sie selber kaum mehr kennen und die sie denjenigen weitergeben sollen, die durch das Fehlen der alltäglichen Erlebnisse auf dem Schulweg und in der Freizeit geschädigt wurden.

War denn der Trip in die Höhle Bief Paroux nicht auch eine Laborsituation? Darüber könnte man diskutieren!

Urs Maurer, swissinfo

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