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«Sans-Papiers» – auch ein Versagen des Rechtsstaates

Demonstration von "Sans-Papiers" letzten Donnerstag vor dem Staatssekretariat für Wirtschaft (seco). Keystone

Zwischen 150'00 und 300'000 Menschen sollen ohne Aufenthaltsrecht in der Schweiz leben. Gefordert wird nun eine kollektive Regelung für alle Illegalen. Die Schweizer Regierung lehnt dies aus Gründen der Rechtsstaatlichkeit indes strikte ab. Doch die Ausländer-Politik selbst öffnet der Willkür Tür und Tor.

Mit der Besetzung der Freiburger Kirche St. Paul durch 84 Ausländerinnen und Ausländer, die sich ohne Papiere in der Schweiz aufhalten, sind die Papierlosen erstmals aus ihrem Schattendasein herausgetreten.

Mit ihrer Aktion machen sie auf ihre prekäre Lage aufmerksam. Das Leben der Papierlosen ist geprägt von der täglichen Angst, weggewiesen zu werden, von der Rechtlosigkeit gegenüber dem Arbeitgeber und von der Furcht, krank zu werden, weil ein «Sans-Papier» nicht krankenversichert ist.

Kollektive Legalisierung gefordert

Die Papierlosen haben diese Woche in einem Brief an Bundesrat Pascal Couchepin erneut eine kollektive Regelung gefordert. Diese Lösung zur Legalisierung der Illegalen ist nicht neu: In andern europäischen Ländern wie Italien, Belgien oder Frankreich wurde den «Sans-Papiers» die Gelegenheit geboten, ihren Status zu legalisieren.

Doch die Schweizer Regierung lehnt eine kollektive Lösung aus rechtstaatlichen Gründen strikte ab. Eine kollektive Regelung sei willkürlich. Nur nach individueller Prüfung könne in Härtefällen eine Aufenthalts-Bewilligung erteilt werden, liess der Bundesrat in seiner Stellungnahme vor den Sommerferien verlauten.

Individuelle Nachgiebigkeit

Was dies konkret für die Tausenden von Illegalen heisst, ist offen. Denn Rechstaatlichkeit und Grosszügigkeit sind laut Thomas Fleiner, Professor für Staatsrecht an der Universität Freiburg, keineswegs unüberbrückbare Gegensätze.

Individuelle Beurteilung schliesse individuelle Nachgiebigkeit nicht aus. «Die Schweiz könnte hier sehr grosszügig, aber dennoch individuell die Angelegenheiten behandeln», gab sich Fleiner gegenüber swissinfo überzeugt.

Gefragte Arbeitskräfte

Doch wer überhaupt sind diese Papierlosen? Die Mehrheit der Papierlosen will eine Bewilligung besessen haben, also einst legal in die Schweiz eingereist sein. Es handelt sich um abgewiesene Asylbewerber, ehemalige Saisonniers und deren Angehörige, um geschiedene Frauen oder um ehemalige Kurzaufenthalter.

Sie arbeiten im Gastgewerbe, auf dem Bau oder in der Landwirtschaft. Nach dem Verfall ihrer Aufenthalts-Bewilligung haben sie das Land unter anderem deshalb nicht verlassen, weil eine grosse Nachfrage nach ihrer Arbeitskraft besteht. Aus dem gleichen Grund werden aber auch bestehende Gesetze nur mangelhaft umgesetzt.

Willkür produziert Illegalität

Ausländerinnen und Ausländer sind in der Schweiz mit einer Situation konfrontiert, die nur bedingt rechtsstaatlichen Grundsätzen genügt. Oft ist es auch die Willkür der Verwaltung, die Menschen in die Illegalität treibt.

Die gegenwärtige Situation, so Fleiner, sei grundsätzlich unbefriedigend, denn das Ausländergesetz gebe der Verwaltung ein fast unbeschränktes Ermessen. «Das halte ich für rechtsstaatlich höchst problematisch.»

Ausländerinnen und Ausländer, die um eine Aufenthalts-Bewilligung nachsuchen, oder diese erneuern wollen, sind laut Fleiner fast ganz abhängig vom Ermessen einzelner Verwaltungsstellen und Beamten. Diese Menschen geraten so in die Abhängigkeit der Verwaltung, ohne einen Rechtsschutz gegen die Verwaltung zu haben.

Migration akzeptieren

Auch wenn die Mehrheit, der zurzeit in der Schweiz lebenden Illegalen, ihren Status legalisieren kann – sei es durch eine kollektive Regelung oder durch eine individuelle Prüfung, wie sie der Bundesrat vorschlägt – werden bald wieder Tausende von Menschen kommen, die legal oder illegal in der Schweiz bleiben wollen.

Der weitere Zustrom von Menschen lässt sich nicht verhindern, davon ist Fleiner überzeugt. Denn angesichts des von der Globalisierung und der Mobilität des Arbeitsmarktes erzeugten Drucks, sei die Migration mit rein politischen oder rein rechtlichen Massnahmen nicht aufzuhalten. Was es aber brauche, sei eine gesamteuropäische Politik, die die Migration als Phänomen und als Problem akzeptiere und entsprechend damit umgehe.

Hansjörg Bolliger

Mit der Schweiz verbunden

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