Spaltung des Bundesrats als Gefahr für Schweiz

Jahr eins nach dem Sieg der SVP bei den Parlaments-Wahlen, Jahr eins nach Christoph Blochers Wahl in den Bundesrat: Bilanz über ein Jahr "polarisierte Schweiz".
«Auf uns kommt ein gespaltener Bundesrat zu, das hat sich in diesem Jahr bereits abgezeichnet», sagt Kurt Imhof, Professor für Soziologie an der Universität Zürich.
Wo steht die Schweiz heute politisch und gesellschaftlich? swissinfo hat sich zusammen mit Kurt Imhof, Professor für Soziologie an der Universität Zürich, auf einen Erkundungsgang durch die aktuell Polit- und Parteienlandschaft aufgemacht.
swissinfo: Ist Christoph Blocher ein «Bundesrats-Wolf im Schafspelz»?
Kurt Imhof: Ja. Auf uns kommt ein gespaltener Bundesrat zu. Das hat sich dieses Jahr bereits abgezeichnet. Die Legislaturperiode wird weiter gekennzeichnet sein durch die Bewirtschaftung der Differenzen innerhalb des Gremiums.
In der knapp 160-jährigen Geschichte des Bundesrats sind Konflikte noch nie derart nach aussen gedrungen, das liess das Konkordanzprinzip nicht zu.
Der Bundesrat war dabei derjenige Akteur, der die meisten Abstimmungen überhaupt gewonnen hat. Durch die innere Spaltung, die nach aussen getragen wird, wird der Bundesrat zum Verlierer.
swissinfo: Droht eine Vertrauenskrise?
K.I.: Ja. Vertrauen in die zentralen Institutionen einer Gesellschaft ist aber von entscheidender Bedeutung, damit beispielsweise auch die Wirtschaft investiert.
swissinfo: Die Rechnung des Parlaments, Blocher durch die Wahl in den Bundesratswahl zu integrieren und politisch zu zähmen, ist also nicht aufgegangen?
K.I.: Sicher nicht. Das Kalkül vieler bürgerlicher Politiker war naiv. Die Vorstellung, dass mit Kooptation jemand brav und konstruktiv wird, hat üblicherweise funktioniert, wenn eine Partei neu an der Exekutive beteiligt wurde. Das lag aber sicher nie im Kalkül der SVP.
Ich habe aber die grössten Zweifel, ob es der SVP mittelfristig dient, die Dauerkonflikte im Bundesrat zu bewirtschaften. Wenn sichtbar wird, dass die Spaltung des Bundesrats auf eine fortgeführte Fundamental-Opposition zurückgeht, fällt ein negative Reputationseffekt auf die SVP zurück.
swissinfo: Wird die Blocher-/SVP-Vision eines rein bürgerlichen Bundesrats, also der Rauswurf der SP, möglich?
K.I.: Dieses Szenario ist nicht gänzlich auszuschliessen, in einer zugespitzten Konflikt-Situation ist generell vieles möglich. Für mich ist aber wahrscheinlicher, dass die SVP an der Decke anstösst und ihre grossen Erfolge bereits Geschichte sind.
swissinfo: Spielt da auch unsere Mentalität mit, welche um Konsens bemüht ist, statt Extremen zu folgen?
K.I.: In der politischen Kultur der Schweiz dominiert der Aushandlungs-Prozess. Die Schweiz als Willensnation, die sich nicht ethnisch oder sprachnational begründen kann, setzt komplexe Einigungsprozesse und –Institutionen voraus.
Deshalb werden die Kräfte, die das zu stark in Frage stellen, früher oder später abgestraft.
swissinfo: Hat die SVP mit ihren Gegenüberstellungen wie «ehrliche Arbeitnehmer/Steuerzahler» gegen «Profiteure», «Schmarotzer» oder «Scheininvalide» die soziale Desintegration in der Schweiz vorangetrieben?
K.I.: Die Dichotomien wie Wohnbevölkerung vs. Stimmrechtsbevölkerung, das Dies- und Jenseits des Röstigrabens, Schweiz vs. Europa, Scheininvalide vs. Arbeitende sind desintegrierend und integrierend.
Es gibt aber nichts integrierenderes als Konflikte: Konflikte integrieren diejenigen, die auf der einen oder der anderen Seite stehen. Sie spalten aber diese beiden Seiten.
Bei der SVP mobilisieren und definieren sie den aufrechten Schweizer gegen das Fremde und den Staat. Das ist ungeheuer wirksam, seit es die 200-jährige «Veranstaltung Moderne» gibt. Das hat immer funktioniert, und wird auch immer wieder funktionieren.
Das Erstaunliche ist nicht die politische Linie der SVP, das ist eigentlich ein alter Hut, wenn auch professionell bewirtschaftet. Erstaunlich ist, dass die Mitte und die SP diese Politik nie adäquat beantwortet haben. Und zwar mit einem Patriotismus, der ein positives Projekt Schweiz umfassen würde. Im Gegensatz zur negativen Abgrenzung der SVP.
Vision eines solch patriotischen Stolzes wäre beispielsweise die «Verschweizerung» Europas im Sinne von: «Seht her, die Schweiz hat der Welt etwas zu bieten». Und: «Wir mischen uns in fremde Händel. Wir stellen der Welt unsere guten Dienste aktiv zur Verfügung».
Nötig ist eine Neutralität, die versucht, die Welt zu verändern und nicht eine Neutralität des «Gegen» und des «Absentismus».
swissinfo: Mitte und Linke müssten also beispielsweise mit dem Geist der Expo.02 gegen die SVP antreten?
K.I.: Genau. Patriotismus ist eine politische Kraft von ganz grosser Wirkung. Im positiven Sinn ist er ein Gemeinsamkeitsglaube an etwas, worauf man Stolz ist.
Wenn man ihn nur einer Seite des politischen Spektrums überlässt, muss man sich nicht wundern, dass diese Partei die grössten Wahlerfolge einfährt.
swissinfo: Die SVP prägt heute die politische Kultur der Schweiz: Komplexe Sachthemen werden auf eine Werte-Ebene heruntergebrochen, in deren Zentrum Sicherheit, direkte Demokratie, Neutralität, Freiheit, Unabhängigkeit stehen.
K.I.: Das sind nicht falsche Werte. Es kommt darauf an, wie sie umgesetzt werden. Und ausserdem: Die Wertbasis der SVP lässt sich besser mit dem neoliberalen Anti-Etatismus und der Problematisierung des Fremden umschreiben.
Die SVP betreibt diese Wertepolitik seit den frühen 1980er-Jahren, als sie vom Freisinn dessen Programm «Mehr Freiheit, weniger Staat» übernommen hatte.
Gleichzeitig hat der Zürcher Flügel den Nationalismus aus der Zeit der geistigen Landesverteidigung und damit ironischerweise des ganz starken Staates zur Idealgesinnung der Schweiz erklärt.
Damit ergänzte sie dem neoliberalen Ansatz der Deregulierung beziehungsweise dem Steuer- und Standortwettbewerb durch das sozialmoralische Kissen eines konservativen Nationalismus. Das erlaubte der Partei, die Folgen der Globalisierung mit der Problematisierung alles Fremden zu erklären.
Mit anderen Worten: Wir haben es mit einem politischen Perpetuum Mobile zu tun: Der Staat wird als Bleikugel von Politik und Wirtschaft diskreditiert, gleichzeitig starker Druck auf eine Deregulierung im Hinblick auf Steuer- und Standortvorteile ausgeübt und die Schweiz selbst verklärt.
swissinfo: Was sind die Rezepte, um dieses Perpetuum Mobile zu durchbrechen?
K.I.: Der grosse politische Fehler der Mitte ist, dass sie die Wertepolitik seit den frühen 1980er-Jahren sträflich vernachlässigt hat. Sie hat ausschliesslich «Mehr Freiheit, weniger Staat» bewirtschaftet. Freisinn und CVP haben die Globalisierung als Naturprozess beschrieben, dem sich niemand entziehen kann.
Gleichzeitig wurden die Kategorien des Volkes, der Nation, des Nationalstaates, der Selbstbestimmung als Voraussetzung jeder Demokratie gänzlich der SVP überlassen.
Die SP ihrerseits hatte in den 1980er-Jahren ihre Wertepolitik ganz auf den Multikulturalismus ausgerichtet. Darin hatten Heimat und Herkunft nur noch für die Immigranten eine Funktion, nicht mehr für die Schweiz.
Gerade die Partei mit einer grossen Tradition des Volksbegriffes hat die Volksbegrifflichkeit und damit den Souverän vernachlässigt, ohne ein Projekt Schweiz anzubieten, aus welchem auch Motive für einen Patriotismus der Verfassung und der Institutionen geschöpft werden könnte.
swissinfo: Ängste vor Fremden und dem Fremden scheinen zu verfangen: Das Volk sagte Nein zu erleichterten Einbürgerungen. Integrationsbemühungen, die Geld kosten, haben einen schweren Stand.
K.I.: Wenn man auf der einen Seite die Globalisierung als permanente Bedrohung darstellt, erzeugt man damit einen permanenten politischen Alarmismus, dass sich die Schweiz offenbar auf dem Abstieg befindet, und fängt diesen auf der anderen Seite gleich wieder auf in Form eines anti-etatistischen und anti-fremden Patriotismus.
Man macht also auf Alarm, stellt diesen auf Dauer und beruhigt gleichzeitig die Leute mit einem konservativen Nationalpatriotismus als Lösung allen Übels. Das ist der Trick 77 aller rechtskonservativen Parteien der Moderne.
Es hat es aber kaum je gegeben, dass sich die anderen Parteien seit 25 Jahren derart über den Tisch haben ziehen lassen. In dieser Zeit wurde die SVP von der kleinsten zur grössten Bundesratspartei. Freisinn, CVP und SP haben programmatisch die Möglichkeit verloren, von einem Volk zu sprechen, während die SVP die Hälfte des Volkes angesprochen hat.
swissinfo, Renat Künzi
Oktober 2003: Die rechtsbürgerliche SVP wird in den Parlamentswahlen stärkste Partei.
Sie fordert einen zweiten Sitz im Bundesrat.
Dezember 2003: Christoph Blocher, der «starke Mann» der Partei, erringt für die SVP den zweiten Sitz in der Landesregierung – auf Kosten Ruth Metzlers und der CVP.
Im ersten Amtsjahr hat BR Blocher das Kollegialitäts-Prinzip mehrere Male missachtet.
Vor 25 Jahren war die Schweizerische Volkspartei (SVP) die kleinste Bundesratspartei, heute ist sie die grösste.
Dies ist ihr gemäss Soziologie-Professor Kurt Imhof mit der Strategie eines «politischen Perpetuum Mobile» gelungen.
Globalisierungstendenzen werden vorangetrieben (Deregulierung im Hinblick auf Steuer- und Standortvorteile), daraus entstehende Zweifel als Ängste vor dem Fremden kanalisiert und diese anschliessend in einem konservativen Nationalpatriotismus aufgefangen.

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