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Zuviel Sauberkeit fördert Allergien

Zuviel Hygiene kann der Gesundheit schaden. Keystone

Bisher machte man die Umweltverschmutzung für die zunehmenden Allergien verantwortlich. Doch jetzt prangern Fachleute die übertriebene Hygiene an.

Ein Dossier von swissinfo zum Weltgesundheitstag 2003.

“Gesunde Umwelt – gesunde Kinder” – so der Slogan für den von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) ausgerufenen Weltgesundheitstag an diesem Montag.

Er ist für die Kinderärzte Anlass genug, einmal mehr die sich immer stärker ausbreitenden Allergien in der Schweiz und den meisten anderen westlichen Ländern anzuprangern.

Laut internationalen Studien leidet jedes zehnte Kind an Asthma, und die Zahl der allergischen Nasenschleimhautentzündungen und Ekzeme hat sich in den letzten Jahrzehnten verdoppelt.

Asthma: 8%, Heuschnupfen: 15%

Zwar wurde in der Schweiz keine epidemiologische Studie zu diesem Thema durchgeführt. Doch Projekt Scarpol (Schweizerische Studie über Atemwegerkrankungen und Allergien bei Kindern) zeigt, dass von 1992 bis 2000 fast 8% der Jugendlichen im Schulalter unter Asthma leiden.

“Ausserdem leiden nahezu 15% der untersuchten Schülerinnen und Schüler an Heuschnupfen”, erklärt Charlotte Braun, Epidemiologin und Professorin am Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Basel.

Vor allem bei den Erwachsenen gibt es Zahlen zum Heuschnupfen. “1920 waren nur 2% der Bevölkerung betroffen”, betont Braun. “1991 waren es über 13%.”

Und die Allergien scheinen überhaupt nicht abzunehmen. Ganz im Gegenteil. Es gibt immer mehr wissenschaftliche Studien, aufgrund derer die Ärzteschaft die bisherigen Gewissheiten hinterfragt.

Umweltverschmutzung unschuldig

Nachdem der Zusammenhang zwischen der Zunahme der Allergien und der Umweltverschmutzung untersucht wurde, kamen Allergologen zum Schluss, dass es nicht die Verschmutzung ist, die diesen Krankheiten zugrunde liegt.

Zur Untermauerung ihrer Argumente verweisen sie auf eine Vergleichsstudie von 1991, nach dem Fall der Mauer, über Kinder in München und in Leipzig, in der Ex-DDR.

“Die Forscher wollten aufzeigen, dass die in Leipzig viel höhere Umweltverschmutzung zu verstärktem Auftreten von Allergien führt. Aber dann bewiesen sie genau das Gegenteil”, erklärt Michael Hofer, Allergologe und Immunologe in der Kinderabteilung im Universitätsspital von Lausanne.

Allergien als Folge westlichen Lebensstils

Die Resultate zeigten in der Tat, dass die Kinder in Leipzig eindeutig weniger unter Allergien litten, obwohl sie viel stärkeren Konzentrationen von Luftverschmutzung wie Stickoxyd und Ozon ausgesetzt sind.

Die deutsche Studie gab sich aber nicht mit diesem ersten Resultat zufrieden. Einige Jahre später wurde sie wiederholt und zeigte, dass in Leipzig mit der zunehmenden Angleichung an den westlichen Lebensstil der Bevölkerung die Allergien zunahmen.

Die Entwicklung der Hygiene

“Man weiss noch nicht genau, welche Elemente in unserer Umwelt das Risiko von Allergien erhöhen. Doch scheint es, dass die rasche Zunahme dieser Krankheiten im Zusammenhang mit der Entwicklung der Hygiene in unseren Gesellschaften steht”, fährt Hofer fort.

Jüngere Studien zeigen, dass das Immunsystem von Kleinkindern Viren und Bakterien ausgesetzt werden muss, um die Abwehr gegen Allergien zu stärken. Diese ganz bewusste Stimulierung ist nötig, damit sie sich an ihre Umwelt anpassen können.

Denn man weiss heute, dass Allergien die Folge eines Beurteilungsirrtums des Immunsystems sind. Dieses betrachtet einfache Staubpartikel – Pollen oder Katzenhaare – als gefährliche Fremdkörper.

Resultat: Es dreht durch, sobald diese in die Nähe kommen. Das Immunsystem lässt eine ganze Armee von Antikörpern los und provoziert damit Kettenreaktionen, die wie Entzündungen wirken.

Schützende Stallbakterien

“Paradoxerweise”, führt Charlotte Braun aus, “konnten wir dank der Scarpol-Studie beobachten, dass Kinder auf einem Bauernhof, welche im Kontakt mit Tieren leben, weniger allergische Reaktionen entwickeln als andere Kinder im gleichen Dorf.”

Und weiter: “Nachdem wir die Frage in Zusammenarbeit mit europäischen Wissenschaftern studiert hatten, kamen wir zum Schluss, dass es ein Schutz sein kann, wenn man bestimmten Bakterien ausgesetzt ist, die von Stalltieren übertragen werden.”

Es ist also so, dass das Immunsystem des Kindes ab dem frühesten Alter mit wirklichen Feinden konfrontiert werden müsste, um gute Abwehrkräfte gegen Allergien aufzubauen.

Die “Hygienikertheorie”



In der Wissenschaft spricht man seither von der “Hygienikertheorie”. Aufgrund der gleichen Gedankengänge zeigten Wissenschafter ferner auf, dass auch Kinder mit vielen Geschwistern oder solche in Krippen besser gegen das Risiko von Allergien gewappnet sind.

Und die Körperhygiene ist nicht allein schuldig. Laut einer Studie, die gleichzeitig in Estland und in Schweden durchgeführt wurde, beeinflusst auch die Nahrung den Kampf gegen die Allergien.

“Im Westen ist die Nahrung sauberer, oft industriell hergestellt und pasteurisiert, das verändert den Gehalt an Bakterien und den Aufbau der Darmflora der Kinder”, erläutert Michael Hofer.

“Es scheint also, dass die Qualität dieser Flora allergische Reaktionen fördert oder den Organismus im Gegenteil davor schützt.”

Die Therapien der Zukunft

Das gesammelte Wissen über die Mechanismen von Allergien dürfte zur Entwicklung neuer Medikamente führen. “Eine viel versprechende Methode ist es, die Kinder so früh wie möglich Bakterien auszusetzen, welche die Funktion ihres Immunsystems beeinflussen”, erklärt Philippe Eigenmann, Allergologe und Kinderarzt am Genfer Universitätsspital.

Damit soll die Immunabwehr einen schützenden Nährboden schaffen. Eine andere Möglichkeit ist die Ausrichtung auf Antikörper gegen Allergien. Diese Methode soll die allergische Reaktion blockieren. Sie wird bereits klinisch getestet.

swissinfo, Vanda Janka

Scarpol-Studie, 1992 bis 2000:
8% der Jugendlichen im Schulalter leiden an Asthma.
15% haben Heuschnupfen.

Allergien sind Krankheiten, die durch eine übermässige und unangemessene Reaktion unseres Organismus auf die Umwelt (Nahrung, Chemie oder Luft) ausgelöst werden.

Der Fehler liegt im Immunsystem, das einfache Staubpartikel, Pollen oder Katzenhaare als gefährliche Fremdkörper wahrnimmt und durchdreht, sobald diese in die Nähe kommen. Dann lässt es spezifische Waffen gegen die Eindringlinge los: Die Immunoglobuline E (IgE).

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