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Schweizer in New York erinnern sich an 9/11

Viele Menschen, die damals in Panik um ihr Leben rannten, können auch heute kaum darüber sprechen. Keystone

Der Schrecken sei weitgehend der Normalität gewichen, doch der fatale Tag werde für immer im Gedächtnis haften bleiben. Das sagen eine Schweizerin und ein Schweizer, die in New York leben, 10 Jahre nach den Anschlägen.

Die 83 Jahre alte Rosa Schupbach-Lechner lebt seit 1959 in New York. Noch heute arbeitet die pensionierte Volkswirtschafterin als Hilfspolizistin in Manhattan und stand auch nach den Angriffen im Einsatz.

Am Morgen des 11. Septembers 2001 war sie in ihrer Wohnung an der Upper East Side. Von den Angriffen erfuhr sie durch ein Telefon einer Freundin aus der Schweiz. Diese habe ganz aufgeregt gefragt, ob bei ihr alles in Ordnung sei, und ihr geraten, den Fernseher einzuschalten.

Sie konnte kaum begreifen, dass die USA angegriffen worden waren. “Es war ein Schock, diese Verletzlichkeit Amerikas zu sehen. Da war etwas geschehen, das ich nie für möglich gehalten hatte.”

Es herrschte Ausnahmezustand, fast alles war abgeriegelt, auf die Insel kommen konnte praktisch nur noch, wer für Sicherheits- oder Rettungsdienste im Einsatz stand. “In der Nacht machte ich kaum ein Auge zu.”

Am nächsten Morgen ging Rosa Schupbach-Lechner zu ihrem Polizeiposten an der East 67th Street und wurde gleich zu einem Einsatz eingeteilt. An dem Strassenblock befinden sich neben dem Posten eine Feuerwache, eine Synagoge und das russische Konsulat. “Der Block wurde aus Sicherheitsgründen abgeriegelt, wir mussten die Strassensperre bewachen”, sagt sie.

Das machte Rosa Schupbach-Lechner dann mit Unterbrüchen mehrere Tage lang. Sie erinnere sich gut an die Hilfsbereitschaft und Dankbarkeit der Menschen. Wildfremde hätten ihnen auch immer wieder Essen und Getränke gebracht.

Sehr schwierig sei es auch gewesen, die eigenen Gefühle in der Öffentlichkeit unter Kontrolle zu halten. “Wenn mich die Realität des Unfassbaren wieder einmal mit aller Härte einholte, war es nicht einfach, nicht in Tränen auszubrechen. Zum Beispiel als man mir eine Kerze im Andenken an die Opfer in die Hand drückte.”

Alarm im Hinterkopf

Bis zu diesem Tag im September 2001 habe sie sich in New York immer sicher gefühlt. “Das ist etwas anders geworden, mit dem Angriff habe ich etwas verloren. Wenn ein Flugzeug oder ein Helikopter etwas tief fliegen oder ich ein merkwürdiges, lautes Geräusch höre, geht in meinem Hinterkopf eine Art Alarm los. In diesem Sinn hat sich mein Leben verändert”, sagt sie.

“Etliches hat sich verändert, man denke nur an all die Sicherheitsvorkehrungen, die vielenorts eingeführt worden sind. Ich denke aber, generell haben sich die Menschen hier nicht unterkriegen lassen. Die Angriffe konnten den Geist New Yorks nicht zerstören. Die Tragödie hat uns nicht geteilt, sondern geeint.”

Bleibende Eindrücke

“Es war ein unglaublich schöner Morgen, der Himmel tief blau, eine klare Sicht wie kaum je”, erinnert sich Beat Reinhart an jenen fatalen Morgen. Der Banker war in seinem Büro im 32. Stockwerk im World Financial Center, direkt gegenüber dem World Trade Center.

Dann habe man dieses merkwürdig laute Motorengeräusch gehört. “Und dann ein Aufschlag, das Gebäude zitterte, danach herrschte Ruhe, und die Telefonverbindungen zu den Brokern im World Trade Center brachen zusammen.”

Danach stand Beat Reinhart am Fenster. Auf dem Mittelstreifen der gespenstisch leeren Strasse zwischen seinem Gebäude und dem WTC lagen zwei leblose Körper, auf dem Dach eines Gebäudes war ein schwer bewaffneter Polizist zu sehen. “Irgendwie ergab alles keinen Sinn.”

Kurze Zeit später schlug die zweite Maschine in den Südturm ein. “Unser Gebäude wurde sehr stark erschüttert. Wir standen alle auf, niemand sagte ein Wort, es herrschte absolute Stille.”

Danach wurde das Gebäude evakuiert. Beat Reinhart und rund ein Dutzend seiner Kolleginnen und Kollegen fanden Platz auf der zweitletzten Fähre, die noch über den Hudson nach New Jersey fuhr – und waren somit in Sicherheit.

Einige Eindrücke tauchten in seinem Kopf immer wieder auf:  “Ich sehe, wie ich nach dem Einschlag der ersten Maschine meine Hände auf die Aktenablagen unter dem Fenster aufstützen musste, den Blick nach oben an den Nordturm gerichtet, aus dem all dieses Papier flog. Dann später der Blick auf den Südturm, der noch viel irrer war, unten von der Strasse aus. Alle möglichen Büroeinrichtungen kamen aus dem Turm geflogen – und all diese Menschen, die aus dem Turm fielen oder sich in die Tiefe stürzten.”

Geblieben ist ihm auch sein letzter Blick vom Oberdeck der Fähre auf die Türme. “Mit den Lichtverhältnissen wirkte die Silhouette des Komplexes fast wie ein Foto – silbergraue Türme, weissgrauer Rauch, all das weisse Papier und der tiefblaue Himmel – im vollen Bewusstsein der Katastrophe, die hinter diesem Bild steckt.”

Auch diesen scharfen, beissenden Geruch, der noch monatelang alles überzog, werde ere nie vergessen. “Besonders im Wissen, dass all diese Menschen dem Inferno zum Opfer gefallen waren.” Beat Reinhart hatte etliche der Opfer persönlich gekannt.

Insgesamt wurden durch die Anschläge in New York, Washington und Pennsylvania fast 3000 Menschen getötet, über 2750 verloren ihr Leben allein in New York.

Unter den Opfern befanden sich zwei Schweizer. Eine Frau, die im World Trade Center gearbeitet hatte und ein Schweizer, der sich mit seiner schwangeren Frau an Bord einer der Maschinen befand, die in die Türme geflogen waren.

In den ersten Tagen nach den Anschlägen hatten rund 700 Schweizer und Schweizerinnen als vermisst gegolten. Viele davon waren Touristen, von denen Freunde oder Familienangehörige nur wussten, dass sie irgendwo in den USA unterwegs waren.

Am 10. Jahrestag wird in New York auf dem Gelände der Anschläge die offizielle Gedenkstätte eröffnet. Sie besteht aus zwei Bassins, die in den Fundamenten der zwei zerstörten Türme errichtet wurden.

An den Marmorwänden der Becken wird Wasser wie ein Vorhang nach unten fliessen und in der Mitte in einem Loch verschwinden. Auf dem Geländer, das die Bassins umgibt, wurden die Namen der Opfer eingraviert.

Eingebettet ist die Gedenkstätte in einen Park mit 400 Mooreichen. Zudem entsteht zur Erinnerung an die Opfer der Anschläge ein unterirdisches Museum, das 2012 den Betrieb aufnehmen soll.

Auf dem Rest des Geländes am Ground Zero entsteht ein neuer Gebäudekomplex, in dessen Zentrum der “Freedom Tower” stehen wird. Der Turm wird nach seiner Fertigstellung mit 514 Metern Höhe das höchste Gebäude der USA sein.

Insgesamt leben heute etwas mehr als 75’000 Schweizer und Schweizerinnen in den USA, davon rund 19’000 im Grossraum New York an der Ostküste.

Gut zwei Drittel der Schweizer Kolonie in den Vereinigten Staaten sind Doppelbürger.

(Quelle: Auslandschweizer-Statistik 2010)

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