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Genossenschaftsbanken dank Finanzkrise im Aufwind

Die Raiffeisen-Genossenschaftsbanken sind die drittgrösste Bank der Schweiz. Keystone

Die als altmodisches Modell betrachteten Genossenschaftsbanken haben ihre Position in den Jahren der Finanzkrise stärken können. In der lokalen Wirtschaft verankert, sind sie eine solide Alternative zu den Exzessen der internationalen Finanzspekulation.

«Die Banken hatten bisher eine stabilisierende Wirkung auf die Wirtschaft. Seit einigen Jahren sind sie jedoch eher zu einem destabilisierenden Faktor geworden», sagt Florian Wettstein, Professor für Wirtschaftsethik an der Universität St. Gallen, gegenüber swissinfo.ch.

«Die wachsende internationale Konkurrenz und der Druck der Aktionäre haben zu einer Logik des kurzfristigen Profits mit schwerwiegenden Konsequenzen geführt. Jetzt spricht man nicht mehr von Wachstum, sondern von höherem Wachstum als im vergangenen Jahr oder im letzten Quartal. An einem gewissen Punkt wird diese Entwicklung unmöglich, und es entstehen Spekulationsblasen, die früher oder später platzen», so Wettstein.

Die letzte Spekulationsblase platzte 2008 und hat den Finanzsektor in die Krise gestürzt. Viele Staaten mussten enorme Anstrengungen unternehmen, um die in Schwierigkeiten geratenen Banken zu retten. Auch die Schweiz blieb nicht unverschont: Die UBS, die grösste Schweizer Bank, konnte den Zusammenbruch nur dank der massiven Intervention des Bundes und der Schweizerischen Nationalbank verhindern.

«Es ist interessant zu sehen, dass die Schweizer Banken, insbesondere die UBS, nicht nur in diese Entwicklung hineingezogen wurden, sondern auf internationaler Ebene eine sehr aktive Rolle dabei gespielt und die traditionelle Kultur der Vorsicht beiseitegelegt haben», sagt der Wirtschaftsethiker.

Neue Organisationsmodelle

Die Krise des Finanzsektors hat auch die reale Wirtschaft angesteckt und wirkt sich heute negativ auf das weltweite Wirtschaftswachstum aus. Deshalb prüfen zahlreiche Regierungen schon seit Jahren neue Organisationsmodelle und neue Bankenregulierungen, um eine erneute Finanzkrise dieses Ausmasses zu verhindern.

Verbot von Spekulationsoperationen mit hohem Risiko, Trennung des Investmentbanking vom üblichen Bankengeschäft, Beschränkung der Boni und andere Massnahmen wurden auch von den Schweizer Behörden geprüft. Regierung und Parlament haben bislang eine Aufstockung des Eigenkapitals der Banken gutgeheissen, und zwar in höherem Ausmass, als dies in anderen europäischen Ländern vorgesehen ist. Dennoch sind diese Massnahmen für viele Experten noch ungenügend.

Ein nachhaltiges und krisenresistentes Organisationsmodell gibt es indessen schon seit langer Zeit: jenes der fest in der lokalen Wirtschaft verankerten Genossenschaftsbanken. Die Raiffeisen-Genossenschaftsbanken erzielten in den letzten Jahren starke Fortschritte. Seit 2008 haben diese Banken Tausende von Kunden der beiden Grossbanken UBS und Credit Suisse (CS) angezogen, die nach den auf dem amerikanischen Markt erlittenen Umstürzen beide an Glaubwürdigkeit verloren haben.

Im Januar dieses Jahres hat Raiffeisen fast die ganze Bank Wegelin gekauft, die ihre Aktivitäten aufgeben musste, nachdem sie zusammen mit zehn weiteren Schweizer Banken in den USA unter Anklage gestellt worden war. Dies wegen Beihilfe für Tausende von Kunden zur Steuerflucht. Dieselbe Raiffeisen Bank beschloss im letzten Februar, eine transparente Parteienfinanzierung zu garantieren und sprach sich zugunsten der Einführung des automatischen Informationsaustauschs über Bankkonten mit den europäischen Ländern aus.

Zahlreiche Vorteile

In den schwierigen Zeiten des Finanzplatzes zeigt sich die Genossenschaftsbank besonders dynamisch und ist bereit, mit Tabus – wie dem Bankgeheimnis – zu brechen, die keine Zukunft mehr zu haben scheinen. Eine Tatsache, die im von der UNO proklamierten Internationalen Jahr der Genossenschaften das Interesses für eine Unternehmensform wecken sollte, die oft als altmodisch angesehen wird: Fast alle grossen Genossenschaften wurden vor einem halben Jahrhundert gegründet.

«Die Genossenschaftsbanken bieten eigentlich zahlreiche Vorteile», sagt der Ökonom Hans Kissling gegenüber swissinfo.ch. «Vor allem sind sie nicht dem Druck von Besitzern und Aktionären ausgesetzt und deshalb auch nicht zu grossen Risiken und Exzessen gezwungen. Die Genossenschaftsbanken verfolgen vielmehr eine langfristige Strategie im Interesse ihrer Mitglieder, die zugleich ihre Kunden sind.»

Weil Genossenschaftsbanken keine Aktien hätten, bestehe auch keine Gefahr von Insidergeschäften, sagt Kissling. «Und auch keine öffentlichen Kaufangebote zu deren Schaden: Übernahmeversuche von anderen Unternehmen müssen nämlich von den Genossenschaftern gutgeheissen werden», fügt das ehemalige Verwaltungsratsmitglied einer Genossenschaft bei. «Und zu guter Letzt wird auch kein Kapital verschleudert durch Dividendenausschüttung oder überrissene Löhne. Das Kapital bleibt in den Genossenschaften und wird für neue Investitionen oder zur Aufstockung des Eigenkapitals verwendet.»

Demokratisch und solidarisch

Die tendenziell demokratischen und solidarischen Genossenschaften finden sich fast immer an der Spitze der Rangliste von Unternehmen, welche das grösste Vertrauen in der Bevölkerung geniessen. Aber das genügt sicher nicht, um ihr Wachstum zu fördern: In der Schweiz entstehen jedes Jahr Tausende von Aktiengesellschaften und lediglich ein paar wenige Dutzend Genossenschaften.

«Die Behörden sollten Steuererleichterungen einführen oder Spezialfonds zur Begünstigung der Umwandlung von Familienunternehmen in Genossenschaften, zum Beispiel beim Tod des Besitzers. Eine andere Möglichkeit wäre die Einführung von Partizipationsscheinen ohne Stimmrecht, welche die Kapitalisierung der Genossenschaften gestatten würden», so Kissling.

Im Bankensektor sind die grössten Möglichkeiten durch die Kantonalbanken gegeben. Zahlreiche Kantone beabsichtigen früher oder später deren Privatisierung. Eine Umwandlung in Genossenschaften statt in Aktiengesellschaften würde es erlauben, ihr ursprüngliches Mandat zu bewahren. So wären praktisch die Hälfte der 20 grössten Banken in der Schweiz eines Tages Genossenschaften.

«Die Förderung von Genossenschaften müsste fürs Erste in der Verfassung verankert werden, wie in Italien», sagt Kissling. «Dies nicht nur zum Aufzeigen der wirtschaftlich und sozialen Bedeutung der Genossenschaften, sondern auch zur Unterstreichung einer langjährigen schweizerischen Tradition der Solidarität: Seit ihrer Frühzeit nennt sich die Schweiz auf Deutsch ‹Eidgenossenschaft› – beziehungsweise die Genossenschaft derjenigen, die sich zum Bündnis verpflichtet haben.»

In der Schweiz gibt es rund 10’000 im Handelsregister eingetragene Genossenschaften. Das sind lediglich 2% der über 500’000 Schweizer Unternehmen.

Die Genossenschaften tragen dennoch mit 10% zum Bruttoinland-Produkt (BIP) bei.

Darunter befinden sich die beiden Detailhandelsriesen Migros und Coop, die über 50% des Detailhandels in der Schwewiz kontrollieren.

Die beiden genossenschaftlichen Unternehmen gehören zu den grössten Arbeitgebern der Schweiz: Die Migros beschäftigt 83’000 Angestellte, Coop deren 75’000.

Migros und Coop zählen 4,5 Millionen Genossenschafter, das heisst mehr als einen auf zwei Schweizer.

Zu den anderen grossen Genossenschaften gehören die Fenaco, das grösste Landwirtschaftsunternehmen der Schweiz, die Mobiliar, die Nummer eins im Sektor Versicherungen für Private und Unternehmen, sowie die Raiffeisen Bankengruppe, die drittgrösste Schweizer Bank.

Die UNO hat 2012 zum Internationalen Jahr der Genossenschaften erklärt.

Weltweit gibt es rund eine Milliarde Mitglieder von Genossenschaften, die wiederum über 100 Millionen Menschen beschäftigen.

Die ersten Genossenschaften entstanden gegen Mitte des 19. Jahrhunderts in Grossbritannien. Diese Unternehmensform verbreitete sich insbesondere in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts in Europa.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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