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Christoph Marthaler: langsamer Spezialist

Szenenbild aus den "Spezialisten". Keystone

Im Zürcher Schiffsbau steht Christoph Marthalers "Spezialisten" auf dem Programm. Ein Stück über Menschen, die erste Klasse fahren können und trotzdem immer ärmer werden.

Schiffbauhalle. Der Vorhang geht auf. Wir schauen in ein weisses, riesiges, hohes Abteil mit kleinen Fenstern, Gestängen, Haltegriffen, Gepäckablagen, Sitzgelegenheiten – die Notbremse unerreichbar hoch. Eisenbahn, Flugzeug, Schiff? In der Flucht ein zweiter Raum, ausgestattet mit dunkelbraunem Täfer, Plüschstühlen, ausgestopften Bambis und alten Werbeplakaten. Das Säali fürs Familientreffen? Unwichtige Fragen, wir fühlen uns schon verloren, aber nicht unglücklich. Die Spezialisten singen “Kyrie Eleison” und “Yes Sir, I Can Boogie”. Die Fahrt beginnt.

Mehr als zwei Stunden zelebrieren Christoph Marthaler, Regie (im Programm als Spécialiste bezeichnet), Stephanie Carp, Textcollage/Dramaturgie und Anna Viebrock, Bühne/Kostüme die Kunst der Langsamkeit, der Wiederholung, die Reise ins Da(Da)-Sein. Das bewährte Rezept des kreativen Dreigestirns: Slow Theater, ebenso zu geniessen wie Slow Food. Skurrilitäten, Absurditäten, Diäten. Das Menü schmeckt, etwas zu lang, wir lachen viel und laut, der Verdauungsprozess ist nachhaltig.

Die Spezialisten, was konnten sie nicht alles. In 32 Sprachen schweigen, jedes Schloss öffnen, Stimmen imitieren, Orte erriechen, Dächer ersteigen, Nationalhymnen singen und vieles mehr. Heute sind ihre Fähigkeiten nicht mehr gefragt, sie horchen in alle Richtungen, zwischendurch geht’s allen sehr gut, aber der anabole und der diabole Stoffwechsel fordern ihren Tribut. Immer und immer wieder gehen die Männer den Frauen an die Brüste, die Frauen den Männern an die Weichteile, kassieren beide Ohrfeigen und fangen wieder von vorne an. Schrill, blöd, bös. Das Kapital will gefüttert sein, die Börse spielt Gummitwist, Davos ist nicht weit. Alle gegen Alle, alle allein.

Christoph Marthaler 1951 in Zürich geboren und aufgewachsen ist zurückgekehrt. Marthaler, der Zürcher der auszog, Paris und Deutschland theatral bereiste und begeisterte, ist seit Herbst, seit der Saison 2000/2001 künstlerischer Leiter des Schauspielhauses Zürich. Das heisst Herr über die Pfauenbühne, die Schiffbauhalle und die Box im Schiffbau. “Hotel Angst” war der Auftakt zu einem Programm, das sich bis jetzt sehen lassen kann. Shakespear, Jelinek, Gorki, Schönberg, Houellebecq sind nur einige der Namen, die Ansprüche wecken und die Menschen ins Theater locken sollen. Der Anfang ist geglückt, Theaterbegeisterte und solche die es werden könnten finden den Weg in die grosse Halle, die einst dazu diente Schiffen den nötigen Schub zu bringen. Marthaler ahoi!

Brigitta Javurek

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