The Swiss voice in the world since 1935

Smartvote: Wie eine Schweizer Idee die Demokratie in Japan verändert

Zwei Fussgänger gehen an einer grossen, kalenderähnlichen Wand mit politischen Plakaten vorbei.
Wahlplakate für die Gouverneurswahlen in Tokio am Donnerstag, 20. Juni 2024. Hiro Komae / Keystone

In Japan dominiert seit Jahrzehnten eine politische Partei, die Liberaldemokraten. Auch dank digitalen Wahlhilfen könnte sich dies nun aber ändern.

Jedes Frühjahr, zur Zeit der Kirschblüte, füllt sich der Campus der traditionsreichen Waseda-Universität in Tokio, der mit gut 40 Millionen Einwohner:innen grössten Stadt der Welt.

Wie auf einem Jahrmarkt wird dabei um die Wette geschrien: Ältere Studierende werben während der ersten Semsterwoche bei den über 10’000 Studienbeginner:innen für so unterschiedliche Aktivitäten wie Standup-Comedy, Aikido, Jazz-Jams, philosphische Teeclubs, Queer-Vereine und kommunistische Studien-Zellen.

Kundgebung in Tokio.
Auf dem Campus der Waseda-Universität in Tokio. SWI swissinfo.ch/Bruno Kaufmann

«Ich engagierte mich ab dem ersten Tag hier in einem Politik-Club», sagt der 22-jährige Kentaro Kikuchi, der im vierten Jahr Politikwissenschaft an der Waseda-Universität studiert. Wir sitzen im zwölften Stock des Hauptgebäudes im Büro von Professor Airo Hino.

Kentaro und ein weiterer Studierender, Yuta Suzuki, 23 Jahre alt, sind über Zoom zugeschaltet: «Wir bereiten uns auf die nächsten Parlamentswahlen vor», erzählt Hino, «und besprechen die wichtigsten Kriterien der Onlinewahlhilfen.»

Ende Juli wird in Japan die Hälfte des «Sangiin» neu gewählt. Das ist das aus 248 Abgeordneten bestehende Oberhaus im nationalen Parlament. Und wie vor jeder Wahl seit über einem Jahrzehnt unterstützt Airo Hino dabei zusammen mit Studierenden seiner Fakultät interessierte Akteurinnen und Akteure bei der «Smartvote»-Bereitsstellung, in Japan bekannt unter der Bezeichnung «Vote Match».

Konkret analysieren Hino und sein Team die Wahlplattformen der Parteien wie auch die Aussagen der Kandidierenden und wählen einige Dutzend Fragen aus, welche den Wähler:innen unter den Nägeln brennen. Die Onlinewahlhilfen selbst werden meistens von Medienhäusern zur Verfügung gestellt, etwa von der Tageszeitung «Yomiuri». 

Online-Wahlhilfen sind digitale Tools, die die wichtigsten Wahlkampfthemen für Wählerinnen und Wähler aufbereiten. Sie erfüllen somit wichtige demokratische Funktionen, indem sie für Transparenz sorgen, zur Wahl animieren, so die Wahlbeteiligung und auch demokratische Legitimation von Wahlen erhöhen können. Smartvote ist eine Online-Plattform, die Wähler:innen mit Kandidat:innen und/oder Parteien zusammenbringt, die ihre politischen Positionen teilen.

Die Wählenden erstellen ein politisches Profil, indem sie einen standardisierten Fragebogen mit 30-75 Fragen zu aktuellen politischen Themen ausfüllen. Dieses Profil wird dann mit den zuvor gesammelten Profilen der Kandidierenden und/oder der Parteien abgeglichen. Nach dem Ausfüllen des Fragebogens erhalten die Wählenden eine Liste von Kandidat:innen oder Parteien (Listen), die nach dem Grad ihrer Übereinstimmung mit dem Profil der Wählenden in absteigender Reihenfolge sortiert sind.

In der Schweiz haben in den letzten 25 Jahren über 250 Wahlen mit SmartvoteExterner Link-Begleitung stattgefunden. Das Angebot wird gemäss Erkenntnissen des Europäischen Forschernetzwerkes ECPRExterner Link von rund einem Fünftel der Wahlberechtigten und fast neun von zehn Kandidierenden genutzt. Auch ausserhalb der Schweiz gehören Onlinewahlhilfen zunehmend zur digitalen Infrastruktur der Demokratie: etwa in der EUExterner Link, den USAExterner Link, KosovoExterner Link und Japan.

Im Büro von Professor Hino werden im Vorfeld einer Wahl jeweils die wichtigsten Informationsquellen identifiziert, die es für die Erstellung eines Fragenkataloges braucht: «Wir schauen uns die Parteiprogramme und Wahlversprechen der Parteien und der einzelnen Kandidierenden an, analysieren aber auch Zeitungsartikel und soziale Medien», erklärt Airo Hino.

Professor Aino Hino an der Waseda-Universität
Professor Airo Hino in seinem Büro an der Waseda-Universität. SWI swissinfo.ch/Bruno Kaufmann

Vor allem jüngere Wähler:innen nutzen das Angebot, freut sich Yuta Suzuki, der wie schon sein Studienkollege Kentaro Kikuchi im Verlaufe seines Studiums ein Praktikum bei einem Politiker absolviert hat. «Das hat mir gezeigt, wie bedeutsam es für unsere Demokratie es ist, gut informiert zu sein und eine bewusste Wahl zu treffen», betont Suzuki und fügt hinzu: «Vote Match-Anwendungen auf dem Smartphone bieten auch Menschen, die nicht täglich politische Diskussionen verfolgen, die Möglichkeit, sich eine Meinung zu bilden».

Lesen Sie unseren Artikel über Smartvote in der Schweiz:

Mehr

Mehr

Entdecken Sie Ihr politisches Profil mit Smartvote

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Mit dem Smartvote-Fragebogen können Sie Ihr politisches Profil ermitteln und mit jenen der Kandidierenden für die Parlamentswahlen vergleichen.

Mehr Entdecken Sie Ihr politisches Profil mit Smartvote

Wie in anderen etablierten Demokratien beteiligen sich auch in Japan jüngere und ältere Stimmbürger:innen sehr unterschiedlich fleissig an Wahlen und Abstimmungen: Bei den letzten nationalen Wahlen für das japanische Unterhaus nahmen knapp zwei Drittel der Über-70-Jährigen, aber nur gut ein Drittel der Unter-30-Jährigen teil.

Mit der Senkung des Wahlrechtsalters von 20 auf 18 Jahre und einem vielfältigen Angebot an Onlinewahlhilfen fand gemäss einer Studie des japanischen Innenministeriums Externer Linkbei den Erstwähler:innen jedoch eine Trendwende statt: Über die Hälfte der 18-Jährigen beteiligte sich an den letzten nationalen Wahlen.

Externer Inhalt

Nur 2% aller japanischen Gemeinden werden von Frauen geführt

Ein frischer demokratischer Wind ist auch auf der lokalen Ebene zu spüren: So wählten die stimmberechtigten Einwohner:innen der Stadt Suginami (583‘000 Einwohner:innen) bei den letzten Bürgermeisterwahlen erstmals eine Frau ins oberste politische Amt – und besetzten die Hälfte der 48 Sitze im Stadtparlament mit Frauen.

«Schon während meiner Kampagne sprach ich vor allem junge Menschen über die sozialen Medien an», berichtet Bürgermeisterin Satoko Kishimoto beim Gespräch mit SWI swissinfo.ch im Büro ihrer Bürgerbewegung.

Die Bürgermeisterin von Suginami, Satoko Kishimoto
Die Bürgermeisterin von Suginami, Satoko Kishimoto, macht sich für die Einführung von Onlinewahlhilfen auf der lokalen Ebene in Japan stark. SWI swissinfo.ch/Bruno Kaufmann

«Die japanische Politik wird von älteren Männern dominiert», berichtet Kishimoto, eine von gerade mal 35 Bürgermeisterinnen in den über 1700 politischen Gemeinden Japans. Das Durchschnittsalter der obersten Lokalpolitiker liegt derzeit bei 67 Jahren, Kishimoto ist gerade mal 50 Jahre alt.

Für die nächsten Wahlen in Suginami im nächsten Jahr möchte sie eine lokale Onwahlwahlhilfe einrichten. «Damit könnten wir die Inhalte der Politik in den Vordergrund rücken», betont sie: «Das ist wichtiger als Köpfe und Parteien».

Nach der Niederlage im Zweiten Weltkrieg und der Kapitulation am 2. September 1945 nach den verheerenden Atombombeneinsätzen in Hiroshima und Nagasaki erhielt Japan auf amerikanisches Geheiss 1947 eine neue demokratische Verfassung. Sie verpflichtet das Land zum Frieden und Verzicht auf Krieg. Bis heute heisst deshalb das japanische Militär «Selbstverteidigungsstreitkraft».

Seit Mitte der 1950er-Jahre wird die Führung der starken politischen Exekutive, die sich auch in der starken Rolle lokaler Bürgermeister abbildet, hauptsächlich von einer Partei, den Liberaldemokraten (LDP), ausgeübt. Die Volksapartei gilt als Sammelbecken von Stimmen aus der politischen Mitte bis weit nach Rechtsaussen.

Einzig nach heftigen Korruptionsskandalen in den 1990er-Jahren und dann wieder 2009 gelang es der linksliberalen Partei, die LDP kurzzeitig von der Regierungsmacht zu verdrängen. Bei den Wahlen im letzten Jahr verlor jedoch die LDP ihre Mehrheit und regiert seither in einer Minderheiten-Koalition mit der religiösen Komeito-Partei.  Verliert die LDP bei den anstehenden Wahlen am 27. Juli auch die Mehrheit im Oberhaus, dürfte deren langjähriges Machtmonopol endgültig der Vergangenheit angehören.

Trotz dieser Auflockerung der Machtverhältnisse und möglichen Neuordnung der Parteienlandschaft verfügen die gut 100 Millionen Wahlberechtigten über wenige Mitbestimmungsrechte: Lokale Volksinitiativen für Volksabstimmungen sind zwar möglich, aber deren Durchführung und Interpretation ist Sache der Exekutive. Auf nationaler Ebene sind Verfassungsänderungen nur nach einem obligatorischen Referendum möglich: Seit 1947 ist es jedoch noch nie dazu gekommen.  

Mit Hilfe von Fachleuten wie dem Waseda-Team von Professor Airo Hino und anderen Universitäten bieten lokale, regionale und nationale Medienhäuser vor jeder Wahl eine Vielzahl verschiedener Onlinewahlhilfen an. «Das ermöglicht uns, die Stärken und Schwächen verschiedener Anwendungen zu vergleichen», sagt Uwe Serdült, der Leiter des «Digital Governance Systems Lab» in Osaka, gut 500 Kilometer südlich von Tokio. 

Zwei Männer, die miteinander sprechen
Der Schweizer Uwe Serdült (rechts), hier im Gespräch mit dem ägyptischen Kollegen Shady Salama, leitet das «Digital Governance System Lab» an der Ritsumeikan University in Osaka. SWI swissinfo.ch/Bruno Kaufmann

Serdülts «Lab»Externer Link wurde vor einem Jahr gegründet und ist eine Zusammenarbeit der japanischen Ritsumeikan Universität und des Zentrums für Demokratie der Universität Zürich in Aarau: «Wir erforschen, wie Onlinewahlhilfen effizienter, transparenter und weniger politisch beinflussbar gemacht werden könnten», sagt Serdült.

«Die heute verwendeten Methoden zur Erfassung relevanter politischer Aussagen von Kandidierenden und politischen Parteien sind sehr aufwändig und sind für die Nutzer:innen undurchsichtig. Das schwächt das Vertrauen in solche Hilfsmittel». Am «Digital Governance Lab» in Osaka werden nun Methoden entwickelt, mit denen die Wahl der Fragen in den Onlinewahlhilfen jederzeit verständlich und transparent gemacht werden soll.

Als stabile Mehrparteien-Demokratie mit häufigen Wahlen bietet Japan, so sind Experten wie Airo Hino und Uwe Serdült überzeugt, nützliche Rahmenbedingungen für die Nutzung, Analyse und Weiterentwicklung digitaler Bürgerbeteiligungsformen: Dazu gehören neben «Smartvote»-Anwendungen auch Petitions- und Initiativrechte.

An Letzteren zeigt sich auch Suginamis Bürgermeisterin Satoko Kishimoto interessiert: «Wie in der Schweiz möchte ich, dass sich die Bürger:innen meiner Stadt mehr mit den politischen Beschlüssen und dessen Auswirkungen identifizieren und dafür Mitverantwortung übernehmen».

Editiert von Mark Livingston

Mehr
Newsletter Demokratie

Mehr

Unser Demokratie-Newsletter

Wenn Ihr Herz auch für die Demokratie schlägt, dann sind Sie bei uns richtig. Wir berichten über Entwicklungen, Debatten und Herausforderungen – bleiben Sie am Ball.

Mehr Unser Demokratie-Newsletter
Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft