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Brexit, Europa und die direkte Demokratie

Swissinfo Redaktion

#Brexit: In einem Plebiszit haben die Briten den Austritt aus der EU beschlossen. Der umstrittene, von oben angesetzte Volksentscheid hat im Land selbst, aber auch in Europa und darüber hinaus einen Schock ausgelöst. Er hat aber auch eine breite Debatte über die direkte Demokratie angestossen. Im folgenden ein Beitrag dazu von Michael von der Lohe.

Die Abstimmenden in Grossbritannien haben sich für den Austritt aus der Europäischen Union entschieden. Wie kann man diese Tatsache beschreiben?

Der Ursprung des Referendums ist eine Abstimmung, die von der Regierung angesetzt worden ist. Und es waren parteiinterne Machtbewegungen, die auf diese Weise langfristig eingehegt werden sollten. Der britische Premierminister Cameron wollte sich seiner ständigen Kritiker entledigen, die sich damit profilierten, das allgemeine Unwohlsein gegenüber einer empfundenen Fremdbestimmung durch die EU ihm persönlich in die Schuhe zu schieben.

Michael von der Lohe, 64, ist seit 2004 Geschäftsführer des «Omnibus für direkte Demokratie», der sich seit seiner Gründung im Jahre 1987 für die Volksgesetzgebung auf allen Hoheitsebenen in Deutschland einsetzt. zvg

Deshalb, und um eine günstige Verhandlungsposition gegenüber den übrigen Staaten in der EU zu erringen, hatte er dieses Referendum angesetzt. Der Ursprung der Abstimmung war also ein Pokerspiel um die Macht in England.

«Remain»/»Leave»-Frage als demokratische Unverschämtheit

So wurden die Menschen in Grossbritannien mit unlauteren «Argumenten» in die wenig sinnvolle Situation getrieben, sich für oder gegen die EU zu entscheiden. Die mehr international empfindenden jungen Menschen haben sich für einen Verbleib in der EU ausgesprochen, die Mehrzahl der älteren Menschen dagegen. Es ging nicht um die Suche nach einer neuen, stimmigen Form.

Deshalb wollen wir auch keine Plebiszite (Referenden) «von oben», von der Regierung angesetzt. Auch die Schweizer mit ihrer langen Erfahrung in direkter Demokratie erlauben ihrer Regierung keine Referenden. Leider werden plebiszitäre und direktdemokratische Volksabstimmungsverfahren oft nicht voneinander unterschieden. Was auch darin zum Ausdruck kommt, dass die beiden grundsätzlichen Verfahren mit dem gleichen Namen «Referendum» bezeichnet werden. Oft werden direktdemokratische Verfahren diskreditiert, indem man sie mit Plebisziten assoziiert, die von allerlei Diktatoren und autoritären Regimen durchgeführt worden sind.

Referenden sollte es nur in zweifacher Form geben: 1. Fakultativ, das heisst von der Bevölkerung herbeigeführt, wenn ihr eine Entscheidung der Regierung nicht angemessen erscheint und 2. Obligatorisch bei völkerrechtlich bindenden Verträgen und bei Verfassungs-/Grundgesetzänderungen.

Die Volksinitiative für Deutschland und ganz Europa!

Das Herzstück der direkten Demokratie ist das Initiativrecht von Unten, dass in einem dreistufigen Verfahren erst zu einem Volksentscheid führt und so die vielfältigen Ideen der Bevölkerung endlich ins gemeinsame Gespräch bringt, damit jeder Mensch an der Gestaltung der Gesellschaft beteiligt wird. Das erst kann Volksabstimmung genannt werden und wir brauchen es dringend auf Bundesebene in Deutschland und auch in ganz Europa.

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Es ist ja nicht zu leugnen, dass die EU in Europa zunehmend als das erlebt wird, was sie auch ist: eine weitgehend undemokratische Konstruktion, die den Menschen immer mehr die Mitbestimmung entzieht. Die Idee von Europa mit ihren Idealen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit, wird hier nicht angestrebt. So ist es kein Wunder, wenn der Rückgriff auf nationale Selbstvergewisserung stetig wächst. Die von der europäischen Bevölkerung abgenabelten Strukturen der EU oder die neu aufflammende Sehnsucht nach Identität in nationalen Einheiten sind keine Lösungen für die Notwendigkeiten der Zukunft.

Der naheliegende Versuch, im Nationalen, in bekannten Traditionen, im eigenen Sprachraum Halt zu finden, ist nur allzu verständlich, denn das Internationale, Supranationale flösst Angst ein, denn ich bin als Mitgestalter nicht mehr gefragt.

Ein neuer Weg muss gesucht und eingeschlagen werden. Mitten im Spannungsfeld zwischen persönlichem Ich und der ganzen Menschheit, bei der Suche nach Identität und Menschlichkeit, erleben wir das Paradox, dass beides unsere Heimat ist. Sicherheit in der Herkunft und Zusammenarbeit mit der ganzen Welt ist kein Widerspruch.

Und so ergeht durch den Brexit ein deutlicher Weckruf an uns alle, jetzt endlich demokratische Strukturen zu schaffen, die uns eine direkte Mitbestimmung an der Gestaltung der Welt ermöglichen, damit jeder einzelne Mensch aus seinem Ich heraus die Form des Gemeinwesens mitbestimmen kann und auf diese Weise alle Menschen die Umstände verantworten, die dann auf uns zurückwirken.

Bei diesem Projekt können wir auf niemanden verzichten.


Die in diesem Artikel geäusserten Ansichten sind ausschliesslich jene des Autors und müssen sich nicht mit der Position von swissinfo.ch decken.

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