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Wahlrecht für Ausgewanderte: Was können Grossbritannien und die Schweiz voneinander lernen?

Ein Blick ins britische Unterhaus
Ob sie wissen, was sie tun? Das britische Unterhaus, die zweite Kammer des Parlaments. Keystone / Andy Bailey

Bis kürzlich konnten britische Staatsbürger:innen, die 15 Jahre lang im Ausland leben, nicht mehr an den britischen Parlamentswahlen teilnehmen. Die konservative Regierung hofft nun, dass diese Diaspora sie wählen wird. Die Erfahrungen in der Schweiz lassen jedoch eher vermuten, dass sie sich damit selbst ins Bein schiesst.

“Wählen ist ein grundlegendes Bürgerrecht, unabhängig davon, wo man lebt”, sagte Jane Golding, Co-Vorsitzende der Kampagnengruppe British in Europe, am 16. Januar, als die 15-Jahre-Regel abgeschafft wurde.

Mit dieser Änderung schliesst sich das Vereinigte Königreich den anderen grossen Demokratien an, die ein lebenslanges Wahlrecht (zumindest auf Bundesebene) zulassen, darunter die USA, Frankreich, Italien, Kanada und die Schweiz.

Offiziellen Schätzungen zufolge wird die Zahl der Menschen, die sich weltweit registrieren lassen können, von etwa 1,2 Millionen auf 3,2 Millionen steigen.

Vor 1985 konnten sich britische Staatsbürger:innen mit Wohnsitz ausserhalb des Vereinigten Königreichs nicht für die Teilnahme an den Parlamentswahlen zuhause registrieren lassen.

Als das Wahlrecht zum ersten Mal auf sie ausgedehnt wurde, wurde eine zeitliche Begrenzung von fünf Jahren, in denen sie ausserhalb des Vereinigten Königreichs gelebt hatten, eingeführt. Diese Frist wurde 1990 auf 20 Jahre hoch- und 2002 wieder auf 15 Jahre herabgesetzt.

Die britische Regierung hatte sich in mehreren Wahlprogrammen zur Abschaffung der 15-Jahre-Grenze und zur Einführung des “Wahlrechts für das ganze Leben” verpflichtet. Die Massnahme ist am 16. Januar 2024 in Kraft getreten.

Quelle: British government impact assessmentExterner Link

Haben die konservativen Tories dies aus Glauben an die Demokratie getan? Vielleicht. Sie liegen jedoch in den UmfragenExterner Link massiv zurück und steuern bei den nächsten Parlamentswahlen auf ein “MassakerExterner Link” zu. Diese müssen bis zum 28. Januar 2025 stattfinden.

Es ist daher verständlich, dass die Partei, die seit 2010 an der Macht ist, alle Möglichkeiten zur Schadenbegrenzung auslotet.

Letztes Jahr mussten die Wähler:innen in England zum ersten Mal einen Ausweis in den Wahllokalen vorlegen – “ein durchschaubarer Versuch, Tory-Wählende zu begünstigen: Der Buspass eines älteren Menschen reicht aus, die Bahnkarte eines jungen Menschen nicht”, so ein unbeeindruckter Kolumnist in der Financial TimesExterner Link.

Das Alter ist nach wie vor die wichtigste Kluft bei den Wahlabsichten, wobei die Konservativen nur bei den über 70-Jährigen die beliebteste Partei sind.

Ob der Schritt mit der Annahme zusammenhängt, dass viele Ausgewanderte wohlhabend und im Ruhestand sind und wahrscheinlich die Konservativen wählen?

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Diese Annahme könnte sich als trügerisch herausstellen. Eine StudieExterner Link der University of Sussex stellte unmittelbar nach der Parlamentswahl 2019 “einen eindeutigen Trend von im Ausland lebenden EU-Bürger:innen weg von den Konservativen fest, die einen katastrophalen Rückgang ihres Stimmenanteils von einem Fünftel im Jahr 2015 auf ein Sechzehntel im Jahr 2019 erlitten”.

Die Forschenden kamen zum Schluss, dass das Bild von Expats als reiche Tories, die sich im Mittelmeer sonnen, ein Stereotyp aus den 1980er-Jahren ist.

Tatsächlich ergab eine StudieExterner Link aus dem Jahr 2022, dass sich in der EU lebende britische Bürger:innen seit dem Brexit und dem Covid-19 “beschämt” und “verlegen” fühlen, weil sie britisch sind.

Stärkung oder Schwächung – aber nie entscheidend

Die Schweiz hatte nie einen “Brexit-Moment”, und die Auslandschweizer:innen haben ein lebenslanges Stimmrecht – wenn auch nie ein problemloses: Ein Viertel der Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer hat Mühe, ihre Stimmzettel rechtzeitig zurückzusenden. Darüber hinaus gibt es zahlreiche Daten darüber, wie sie tatsächlich abstimmen.

Mehr als 800’000 Schweizerinnen und Schweizer leben im Ausland (etwa 11% der Schweizer Bevölkerung). Von diesen ist etwa ein Viertel als Wähler:inner registriert, und von diesen wiederum macht etwa ein Viertel vom Wahlrecht Gebrauch.

Der allgemeine Trend bei Parlamentswahlen ist, dass die Auslandschweizer:innen grüner und linker wählen als ihre Landsleute in der Schweiz.

Die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei SVP bleibt die zweitstärkste politische Kraft unter ihnen, allerdings mit Werten, die deutlich unter denen auf nationaler Ebene liegen.

Bei Referenden und Initiativen, über die die Schweizerinnen und Schweizer mehrmals im Jahr abstimmen, “stärken die Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer das Resultat oder weichen ab – aber sie geben nie den Ausschlag”, so eine Analyse vom September, die ihr Abstimmungsverhalten in den letzten vier Jahren untersucht.

Dabei zeigte sich, dass sie in 14 von 36 Abstimmungen viel deutlicher Ja oder Nein stimmten als die einheimische Stimmbevölkerung. Dies war insbesondere bei sozialen und ethischen Fragen der Fall.

So stimmten beispielsweise deutlich mehr Auslandschweizer:innen für den Vaterschaftsurlaub (+18,2%), das revidierte Transplantationsgesetz (+16,2%), die Erhöhung des Rentenalters für Frauen (+7,5%) und die “Ehe für alle” (+7,1%).

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Zudem zeigte sich bei einem Viertel aller Abstimmungen ein deutlicher Meinungsunterschied zwischen inländischen und ausländischen Stimmberechtigten.

Im Gegensatz zur Gesamtschweiz stimmte die Diaspora der Initiative für sauberes Trinkwasser und der Initiative zur Abschaffung der Massentierhaltung zu.

Die grösste Abweichung gab es beim CO2-Gesetz, das 2021 an der Urne scheiterte. Eine überwältigende Mehrheit der ausländischen Stimmbevölkerung, nämlich 72,2%, stimmte dem Gesetz zu – fast 23% mehr als das Gesamtergebnis.

Sollten sich diese Trends im Vereinigten Königreich wiederholen, könnte Premierminister Rishi Sunak die Erweiterung des Wählerpools bereuen.

Gemäss der erwähnten Studie zu den Auslandschweizer:innen ist die Diaspora niemals das Zünglein an der Waage – “ihre Stimme ist einfach zu schwach”. Im britischen Mehrheitswahlrecht könnte jedoch eine Handvoll Stimmen theoretisch einen grossen Unterschied ausmachen.

Die Stimmabgabe durch Stellvertretung

In der Schweiz leben etwa 42’000 britische Staatsbürger:innen. Die britische Botschaft in Bern konnte auf Anfrage nicht sagen, wie viele von ihnen seit mehr als 15 Jahren im Land leben. Etwa 3000 von ihnen sind über 65 Jahre alt.

Die Financial Times wies darauf hin, dass sich bei der letzten Wahl weniger als ein Viertel der Wahlberechtigten registriert hatte.

“Das Interesse derjenigen, die das Vereinigte Königreich schon vor längerer Zeit verlassen haben, wird noch geringer sein”, schreibt die Zeitung.

“Das Land, in dem die meisten Briten im Ausland leben, ist Australien: Viel Glück, innerhalb von 25 Tagen einen Briefwahlschein hin- und zurückzubekommen.”

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Während britische Staatsbürger:innen im Ausland nicht online abstimmen können – was einige Schweizer Kantone gerade erproben – haben sie einen Vorteil: Sie können durch eine Vollmacht abstimmen. Sie können nicht nur per Post oder persönlich wählen, sondern auch jemanden ihres Vertrauens beauftragen, für sie zu stimmen.

Derzeit ist die Stimmrechtsvertretung in einigen KantonenExterner Link erlaubt, aber sie ist im Allgemeinen auf Personen mit Mobilitätsproblemen beschränkt.

Rishi Sunak hat angedeutet, die Wahlen im Herbst auszurufen. Es scheint jedoch unwahrscheinlich, dass die Ausweitung der Wahlberechtigten im Ausland die Konservative Partei retten wird: Sie könnte ihr blaues Auge sogar noch schwärzer machen.

“Eines Tages werden die Tories erkennen, dass Gerrymandering [Manipulation der Wahlbezirke, Anm.d.Red.] sie nicht aus ihrem Loch herausholt”, so die Financial Times. “Es ist ein Teil des Grundes, warum sie überhaupt in einem Loch sind.”

Übertragung aus dem Englischen: Giannis Mavris

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