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Die versteckten Krisen der Behinderten

90% aller IV-Beziehenden leben in einem Privat-Haushalt. Keystone

Jeder fünfte IV-Bezüger in der Schweiz befindet sich in einer "desolaten Lebenslage". Dies wegen finanzieller Probleme und sozialer Isolation.

Eine Studie erlaubt erstmals einen umfassenden Einblick in die Lebenssituation von behinderten Menschen.

Es gibt keinen typischen IV-Rentner, keine typische IV-Rentnerin. Die individuellen Lebenslagen der Bezüger von Leistungen der Invalidenversicherung (IV) in der Schweiz sind sehr unterschiedlich.

Zu diesem Schluss kommt eine Studie der Fachhochschule Aarau. Sie gibt erstmals in Europa einen umfassenden Einblick in die Lebenssituation von 405’000 Menschen mit Behinderungen, die von der Invalidenversicherung (IV) Leistungen beziehen.

“Die IV-Rentnerin, den IV-Rentner gibt es nicht”, ist ein wichtiges Fazit der Studie. Es bestünden deutliche Unterschiede zwischen Bezügerinnen und Bezügern von IV-Renten und solchen, welche zusätzliche individuelle Massnahmen nutzten. Auch innerhalb dieser Gruppen seien die Lebenslagen sehr verschieden.

Stichwort Lebenslage

Bei der Studie diente das Konzept der “Lebenslage” als Basis. Dabei wurden nicht wie üblich nur die Merkmale Bildung, Beruf und Einkommen untersucht, sondern auch weitere Bereiche.

Punkto Ökonomie waren das Ausbildung, Arbeit, persönliches Einkommen, Haushaltseinkommen und Wohnsituation.

Im sozialintegrativen Bereich kamen die sozialen Kontakte und die Freizeit dazu. Bezüglich Behinderung wurden verschiedene Grade von Mobilität, Hilfe und Unterstützung, Selbstbestimmung und Absenz von Stigmatisierungen untersucht.

Dazu kam schliesslich die Dimension des physischen und psychischen Gesundheitszustandes.

Keine pauschale Beurteilung

Es sei wichtig, die Gruppe der Behinderten nicht pauschal zu beurteilen, sondern den unterschiedlichen Lebenslagen vermehrt Rechnung zu tragen, so eine Forderung der Autoren. Die detaillierten Angaben, welche die Studie liefert, sollen dies möglich machen.

Die Autoren der Studie erachten dies im Zusammenhang mit der Diskussion um die Zukunft der IV als wichtig und wertvoll. Bisher hätte es an gesichertem Wissen gefehlt. In der Diskussion sei vorwiegend über Geld gesprochen worden.

Materielle und soziale Not

Weiter zeigt die Untersuchung, dass sich rund ein Fünftel der Menschen mit Behinderungen in prekären Lebenslagen befindet.

Über die Hälfte dieser Menschen muss mit weniger als 2000 Franken pro Monat auskommen. Sie sind zudem sozial isoliert, wobei 21% überhaupt keine Vertrauensperson haben.

Praktischer Nutzen

“Eine Studie dieser Art zeigt einerseits die materiellen Probleme auf, andererseits aber auch, dass dahinter Menschen stehen”, sagte die sozialdemokratische Nationalrätin Liliane Maury Pasquier gegenüber swissinfo.

“Die Studie ist eine gute Entscheidungsgrundlage”, so Maury Pasquier, denn in der Schweiz fehle es bisher an statistischen Grundlagen über die soziale Situation dieser Menschen.

Sie könne aber auch die Sensibilisierung für die Benachteiligung Behinderter fördern: “Leute im Rollstuhl, denen man draussen begegnet, irritieren uns weniger. Die Behinderten aber, die öffentlich weniger sichtbar sind, bereiteten uns immer noch grosse Mühe, so die Genferin.

Mär von den Scheininvaliden

Laut Andreas Dummermuth, Präsident der IV-Stellen-Konferenz, welche die Studie unterstützt hat, zeigt sich deutlich, dass die “Stammtischlegende von den sorgenfreien Scheininvaliden eine haltlose Behauptung ist”.

Die IV-Stellen-Konferenz weist darauf hin, dass die Ergebnisse der Studie “für politische Entscheidungsprozesse fruchtbar gemacht werden können”. Dies beispielsweise in der bevorstehenden Revision des Gesetzes über die Invalidenversicherung.

Schweizer nicht so krank

Für die Schweizerische Volkspartei (SVP), welche die Kriterien zum Bezug einer IV-Rente einschränken möchte, bringt die Studie nichts Neues. “Das Problem ist nicht mit einer genaueren Definition der Invaliden gelöst. Das Problem ist, dass wir zu viele Invalide haben”, sagte Sprecher Roman Jäggi auf Anfrage. Die Bevölkerung sei aber nicht so krank, wie die Zahlen Glauben machen liessen.

“Die Situation ist ernst, deshalb müssen wir die Art unserer Arbeit ändern und Lösungen finden. Die Studie bringt aber diesbezüglich nichts”, so Jäggi.

swissinfo und Agenturen

2002 bezogen in der Schweiz 465’000 Personen eine IV-Rente.
Die Studie der Fachhochschule Aargau befasst sich mit der Lebenslage von 405’000 Menschen mit einer Behinderung.
55% haben eine körperliche Behinderung, 39% eine psychische.
16% haben eine Beeinträchtigung der innern Organe, 13% geistige Beeinträchtigungen und 12% Sinnesbeeinträchtigungen.

Gut ein Fünftel der IV-Bezüger lebt an der Armutsgrenze oder darunter.

Die Hälfte davon muss mit weniger als 2000 Fr.- pro Monat leben.

Die rund 170’000 Personen, welche neben der IV-Rente individuelle Massnahmen nutzen, sind besser gestellt.

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