«Bei der IV ist ein Paradigmenwechsel nötig»

Die Praxis vom Autobauer Ford in Köln, angeschlagene Mitarbeiter zu betreuen und wieder einzugliedern, soll auch in Schweizer Unternehmen Fuss fassen.
Damit sollen Kosten gespart und der weitere Anstieg der Zahl von IV-Rentnern gebremst werden.
«Was brauchen Sie, wie können wir Sie unterstützen?» Dies sind die Fragen, mit denen laut dem IV-Experten Hans Schmidt die Unternehmen den Problemen von angeschlagenen Mitarbeitern auf die Spur kommen sollen.
Schmidt kennt die IV-Materie in- und auswendig. Als Anwalt hatte er rund 1000 Klienten zu einer vollen IV-Rente verholfen. Doch dann änderte er seine Meinung. Die Rentenlösung, so seine Einsicht, ziele an den Bedürfnissen vieler Betroffener vorbei und schlussendlich auch an denjenigen von Wirtschaft und Staat.
Schmidts Formel dagegen: Die Arbeitgeber müssen dem Betroffenen den Arbeitsplatz garantieren und ihn so schnell wie möglich wieder dorthin zurückholen. Mit anderen Worten: «Wir brauchen bei der IV einen Paradigmenwechsel von der Angebotsorientierung zur Nachfrageorientierung», erklärt Schmidt gegenüber swissinfo.
Beide Seiten sind Gewinner
Seither lobbyiert Schmidt in der Schweiz für das so genannte Kölner Modell. Zur Illustration: Der deutsche Automobilhersteller Ford hält für angeschlagene Mitarbeiter in seinem Kölner Werk ein Disability Management bereit. Arbeitnehmer, die physische oder psychische Probleme haben, werden vom Arbeitgeber in der Rehabilitation begleitet und gefördert. Per Computer wird ihnen innerhalb des Betriebs eine Tätigkeit gesucht, welche auf ihre eingeschränkten Fähigkeiten zugeschnitten ist.
Das Erstaunliche: Diese urtümlich patronale Lösung zahlt sich doppelt aus. Die meisten der angeschlagenen Ford-Mitarbeiter konnten wieder in die Produktion einbezogen werden, und das Kölner Werk spart dadurch 15 Mio. Franken pro Jahr.
Es war der Markt, der Ford zum Disability Management greifen liess. Ziel war, mit einer optimierten Produktivität die besten Karten für das Kölner Werk gegen die konzerninterne Konkurrenz im Ringen um Produktionsaufträge zu erhalten.
Initialzündung von Zürich aus?
Schmidts Wirken beginnt in der Schweiz erste Früchte zu tragen: Die Justizdirektion des Kantons Zürich prüft, in welcher Form sie das Kölner Modell für ihre rund 2000 Mitarbeiter einführen kann. «Unserer Pensionskasse laufen wegen der zunehmenden Fälle von Invalidisierung die Kosten aus dem Ruder», erklärt Susanne Stähelin, Personalchefin der Direktion und Leiterin der internen Projektgruppe. Zweiter Grund für die Pionierarbeit sei die Sorge um diejenigen Mitarbeiter, welche in die Invalidität entlassen werden müssten.
«Die grosse Kunst wird es sein, eine Win-Win-Situation zu erreichen», schätzt Stähelin. Die Herausforderung, die das Betreten des IV-Neulandes bedeutet, nimmt sie gerne an. Und das Zürcher Projekt wird von anderen Verwaltungen und Unternehmen mit Argusaugen verfolgt. «Entscheidend wird letztendlich wohl sein, dass sich unter dem Strich Frankenbeträge einsparen lassen», sagt sie.
Zürich inklusive hat Schmidt momentan 4 Pilotprojekte am Laufen. Seine Zielgruppe sind Verwaltungen von Kantonen und Städten sowie grössere Unternehmen wie Coop und Migros. «Ich hoffe, dass die Projekte in 5 bis 10 Jahren eine breite Wirkung entfalten», so Schmidt.
Reformbedarf unbestritten
Der Bund und die Sozialpartner stützen Schmidts Initiative insofern, als dass der Handlungsbedarf bei der IV unbestritten ist. Darüber aber, wie das Übel angepackt werden soll, herrscht Uneinigkeit.
Die IV setze das Kölner Modell schon seit 40 Jahren um, mit dem Grundsatz «Eingliederung vor Rente», sagt Beatrice Breitenmoser, Vizedirektorin des Bundesamtes für Sozialversicherung (BSV). Das Problem sei jedoch, dass die IV viel zu spät von einem IV-Fall erfahre, nämlich meist erst nach ein bis zwei Jahren, wenn die Beziehung zum Arbeitgeber schon abgebrochen sei.
Breitenmosers Hoffnungen ruhen auf der anstehenden IV-Revision. Im neuen Gesetz sollen Instrumente zur Früherkennung möglicher Problemfälle verankert werden. Mittels Case Management soll, analog zu einem Unfall, der Ablauf genau festgeschrieben sein, beispielsweise die Rollen der Betriebe und Hausärzte.
«In erster Linie muss abgeklärt werden, wo genau das Problem liegt», so die IV-Chefin. Weitere Einzelheiten zum neuen IV-Gesetz will sie keine nennen, da es noch nicht vom Bundesrat behandelt worden sei.
Die Massnahmen müssten jedoch auf Freiwilligkeit beruhen, so Breitenmoser, «Obligatorien wecken bei Schweizer Arbeitgebern sofort Widerstand.» Ausser Frage steht für sie somit beispielsweise das Kanada-Modell, welches Bussen für diejenigen Unternehmen vorsieht, welche zu viele Invalide «produzieren».
Appell für «Verbleibe-Programme»
Peter Hasler, Direktor des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes (SAG) bestätigt das Bild von IV-Chefin Beatrice Breitenmoser: Das Kanada-Modell fällt für ihn wegen des «Strafrechts-Charakters» durch. «Unternehmen, die weniger Invalide ‹produzieren›, sollen dagegen belohnt werden, beispielsweise mit Rabatten bei den Risiko-Prämien oder mit Einarbeitungs-Zuschüssen.»
Die Betriebe müssten davon überzeugt sein, IV-Grenzfälle in einem «Verbleibe-Programm» weiter zu beschäftigen. Dazu gehören Betreuung, ein Absenzen-Management sowie Massnahmen, die optimal auf den Arbeitenden abgestimmt seien. «Voraussetzung ist allerdings, dass der ökonomische Nutzen erklärbar ist», so Hasler weiter.
IV-Meldung ab Tag 0
«Prüfenswert, aber nicht 1:1 auf die Schweiz übertragbar», urteilt Colette Nova vom Schweizerischen Gewerkschaftsbund (SGB) über die Kanada- und Kölner Modelle. «Entscheidend bei der Umsetzung ist die Grösse der Betriebe. Kleinere Unternehmen, wie sie in der Schweiz dominieren, haben für alternative Tätigkeiten nicht dieselben Möglichkeiten.» Auch fehlten ihnen häufig die administrativen Ressourcen.
Klar ist für die Gewerkschafterin, dass möglichst früh in den Prozess eingegriffen wird. «Wir fordern, dass Fälle möglicher Invalidität gleich wie Unfälle ab dem Tag 0 gemeldet werden können.» Damit verbunden sei der Anspruch auf Wiedereingliederung.
swissinfo, Renat Künzi
Die Zahl der IV-Rentner ist in den letzten 10 Jahren von 140’000 auf 220’000 angestiegen (1992 bis 2002).
Die Kosten sind in dieser Zeit um 60% auf 11 Mrd. Franken gestiegen.
30% der Renten gehen an psychisch Angeschlagene.
Schätzungsweise 10 bis 15% der IV-Bezüger oder 25’000 bis 30’000 Personen sind keine eigentlichen IV-Fälle.
Ausländische Hilfsarbeiter haben keinen Anspruch auf Wiedereingliederung.
Eine Wiedereingliederung ist von der Ausbildung abhängig.
Kölner Modell: Ford betreut angeschlagene Mitarbeiter und weist ihnen eine Arbeit zu, die auf sie zugeschnitten ist.
Grundlage: Ihnen wird der Arbeitsplatz garantiert, sie müssen aber möglichst rasch wieder in den Produktionsprozess eingegliedert werden.
Kanada-Modell: Firmen, die zu viele Invalide produzieren, müssen per Gesetz eine Strafe zahlen.

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