Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”: Schweiz hilft Mexiko bei der Bekämpfung des Verschwindenlassens

Fotocollage mit Müttern, die in Mexiko nach Verschwundenen suchen
Flores, die im Vordergrund abgebildet ist, geht jeden Tag mit Hacke und Schaufel hinaus, in der Hoffnung, ihre beiden vermissten Söhne zu finden. Illustration: Helen James / SWI swissinfo.ch

In Mexiko ist die Zahl nicht identifizierter Leichen auf über 52'000 angestiegen. Die Schweiz bietet mexikanischen Behörden, die versuchen, diese Fälle zu lösen, eine forensische Ausbildung an.

Ceci Patricia Flores trägt lange Ärmel, Jeans und eine rosa Mütze, um sich vor der Sonne zu schützen. Sie steckt die Stange aus Walzdraht so tief wie möglich in den Boden.

Dann zieht sie die Stange wieder heraus und hält sich das andere Ende an die Nase. Riecht sie nach verwesendem Fleisch, ist das für sie das Zeichen, genau an dieser Stelle mit dem Graben zu beginnen.

Das ist Flores’ tägliche Routine in der kargen Landschaft von Sonora, einem Bundesstaat im Nordwesten Mexikos. Die 50-jährige Mutter von sechs Kindern sucht in einer Region, in der das organisierte Verbrechen sein Unwesen treibt, nach den Leichen von Opfern, die gewaltsam verschwunden sind.

Unter den Opfern, nach denen sie sucht, sind auch zwei ihrer eigenen Kinder. Der damals 21-jährige Alejandro “verschwand” am 30. Oktober 2015, als er von Sonora in den Nachbarstaat Sinaloa reiste. Marco Antonio, 32, wurde am 4. Mai 2019 in Bahía de Kino, Sonora, von einem Kartell entführt, zusammen mit seinem jüngeren Bruder Jesús Adrián, 15, der später freigelassen wurde.

“Seitdem bin ich wie eine wandelnde Tote”, sagt Flores, die 2019 das Kollektiv Madres Buscadoras de Sonora, die suchenden Mütter von Sonora, gegründet hat.

Jeden Tag schliessen sich ihr weitere Mütter und Familienangehörige an, die eine ähnliche Geschichte haben. Sie nehmen die Sache selbst in die Hand, sagt Flores, denn “die Behörden haben bisher nichts erreicht”.

Ihre mühselige, unbezahlte Arbeit hat sich inzwischen auf andere Landesteile ausgeweitet, während Mexiko mit einer düsteren Realität konfrontiert ist: Mehr als 110’000 Namen sind in einer nationalen Datenbank für Verschwundene registriert, über 52’000 nicht identifizierte Leichen liegen entweder in Massengräbern oder in staatlichen LeichenhallenExterner Link.

Die mexikanischen Behörden sprechen von einer “forensischen Krise” und haben andere Länder, darunter die Schweiz, um Hilfe gebeten.

Fehlende Kapazitäten

Das Eidgenössische Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) hat die Schule für Kriminalwissenschaften an der Universität Lausanne mit dieser Aufgabe betraut.

In Zusammenarbeit mit dem Centre Universitaire de Médecine Juridique Lausanne-Genève (CURML) bietet die Schule seit 2022 Kurse in Forensik für mexikanische Offizielle an, die an der Suche und Ermittlung von Verschwundenen beteiligt sind.

Bisher haben 100 Teilnehmer:innen – von Staatsanwältinnen und Polizeibeamten bis hin zu forensischen Pathologinnen und Anthropologen – an einem Grundkurs teilgenommen, der über das Internet angeboten wird und sich auf die Untersuchung von Tatorten, die forensische Analyse und die Identifizierung menschlicher Überreste konzentriert.

“Wir kommen aus so unterschiedlichen Umgebungen und haben so komplexe Fälle, dass es lächerlich wäre, zu behaupten, wir könnten die Probleme [der Mexikaner:innen] begreifen und bewältigen. Das ist auch nicht unser Ziel”, sagt Christophe Champod, Direktor der Schule. “Was wir versuchen, ist, ihnen eine Methodik zu vermitteln, die sie in ihrer eigenen Situation anwenden können.”

Diese Situation ist entmutigend. Die überwiegende Mehrheit der Fälle von Verschwindenlassen in Mexiko ereignete sich seit Mitte der 2000er-Jahre, als die Behörden ihren Krieg gegen die Drogenkartelle begannen, um diese zu zerschlagen.

Jedes Jahr verschwinden Tausende von Menschen durch die Hand organisierter krimineller Gruppen oder durch die der Regierungstruppen.

Die meisten dieser Fälle bleiben unaufgeklärt in einem Klima, das die Vereinten Nationen als “nahezu absolute Straflosigkeit” bezeichnenExterner Link. Nach Angaben der Nationalen Untersuchungskommission gab es bis 2021 nur 36 Verurteilungen wegen Verschwindenlassens von Personen.

Zu den zahlreichen Herausforderungen, mit denen die Mexikaner:innen konfrontiert sind, gehört ein Mangel an Ressourcen im ganzen Land. Die Kompetenzen und Mittel für die Suche, Untersuchung und Strafverfolgung sind in der Regel auf die Bundesebene konzentriert, sagt Ana Srovin Coralli, Lehrassistentin am Geneva Graduate Institute.

“Auf lokaler Ebene besteht ein enormer Mangel an Räumlichkeiten, Labors und Personal”, sagt die Doktorandin, die für das Forschungsinstitut Swisspeace einen umfassenden Bericht über das Verschwindenlassen von Mexikaner:innen verfasst hat.

Einige der lokalen Suchkommissionen, die in jedem Bundesstaat per Gesetz eingerichtet wurden, um nach den Verschwundenen zu suchen, sind personell unterbesetzt oder haben keine forensischen Fachleute auf der Lohnliste.

Maximale Wirkung

Obwohl die Behörden beteuern, diese Defizite beheben zu wollen, “gibt es keinen systematischen und koordinierten Ansatz zur Verbesserung der Forensik im Land” und nur wenig Zusammenarbeit zwischen einzelnen Institutionen, sagt Coralli.

“Hier kann die Ausbildung meiner Meinung nach einen echten Beitrag leisten – um diejenigen zu erreichen, die normalerweise nicht die Möglichkeit haben, sich mehr Wissen anzueignen.”

Obwohl die Schweiz keinen Einfluss auf die Auswahl der Kursteilnehmer:innen hatte – dies übernahmen die Mexikaner:innen – sagt Champod, dass die Teilnehmer:innen aus verschiedenen Bundesstaaten sowie der Föderation stammen und verschiedene Funktionen ausüben. Diese Mischung sollte “die Wirkung” des Trainings maximieren und den Wert der Zusammenarbeit aufzeigen, sagt er.

Um effektiv zu sein, so Coralli, müsse jede Ausbildung auch langfristig angelegt sein und idealerweise vor Ort stattfinden, “um die Komplexität der Situation vollständig zu erfassen”.

Eltern von verschwundenen Studierenden aus Ayotzinapa bei einer Mahnwache in Mexiko-Stadt
Ein Fall von Massenverschwinden, der international Schlagzeilen machte, ereignete sich 2014, als 43 Studierende aus Ayotzinapa verschwanden. Ihre Angehörigen, Menschenrechtsaktivistinnen und -aktivisten fordern weiterhin eine umfassende Untersuchung. Keystone / Jose Mendez

Champod ist sich der Grenzen des Kurses bewusst, der unter anderem wegen der Covid-19-Pandemie ins Internet verlegt werden musste. Er sagt, sein Team habe eng mit den Mexikaner:innen zusammengearbeitet, um sicherzustellen, dass das Material auf ihre Bedürfnisse zugeschnitten ist.

Auf den Grundkurs folgt ein Kurs für Fortgeschrittene, der auf eine kleinere Gruppe von Teilnehmer:innen beschränkt ist und in dem die Ausbilder:innen individuelles Feedback geben können.

“Der nächste Schritt wäre wahrscheinlich die Rückkehr zum persönlichen Lernen, Schulter an Schulter vor Ort”, sagt er, “und vielleicht ein Besuch der mexikanischen Kolleginnen und Kollegen [in der Schweiz].”

Viele Familien können nicht abschliessen

Auch die Sicherheit spielte eine Rolle beim Entscheid, das Programm aus der Ferne anzubieten. Das Freilegen von Leichen, das Sammeln von Proben, die Ermittlungen und die Strafverfolgung sind Aufgaben, die mit vielen Risiken verbunden sind.

Flores berichtet von Morddrohungen. Sowohl Angehörige als auch Beamte werden immer wieder zur Zielscheibe und verschwinden selbst. Aus diesem Grund wurde den Teilnehmer:innen des Schweizer Kurses volle Anonymität zugesichert.

“Wir haben absolut keine Ahnung, wer wer ist, weil wir glauben, dass wir nur so ihre Sicherheit gewährleisten können”, sagt Champod.

Die Teilnehmer:innen des Fortgeschrittenenkurses können eine Drohne testen, die mit einer Multispektralkamera ausgestattet ist, mit der sie geheime Gräber aufspüren können.

“Wir wollen Lösungen anbieten, mit denen sie schnell handeln können”, sagt Champod. “Denn je länger sie vor Ort sind, um Informationen zu sammeln […], desto gefährdeter sind sie.”

Die Angst vor Vergeltung mag einige Behörden davon abhalten, Untersuchungen durchzuführen, doch Flores glaubt, dass es ihnen auch an Willen mangelt – eine Beobachtung, die Coralli teilt. Der Wille müsse auf allen institutionellen Ebenen vorhanden sein, damit Suchaktionen und Ermittlungen erfolgreich sein können.

Bemerkenswert ist, dass die “Suchenden Mütter von Sonora” bereits mehr als 2000 Leichen in illegalen Gräbern freigelegt haben. Gewissheit hat dies jedoch nur wenigen Familien gebracht.

“Wir holen sie aus einem Loch und die Behörden stecken sie wieder in ein anderes Loch, ohne ihnen ihre Identität zurückzugeben”, sagt sie.

“Wir brauchen Behörden, die wirklich ein Gespür für die Menschen haben und ihre Arbeit bei der forensischen Untersuchung machen, damit die DNA-Tests so schnell wie möglich und ohne Fehler freigegeben werden.”

Der Wert der Koordination

Die Bestimmung multipler Überreste ist jedoch sehr komplex, sagt Negahnaz Moghaddam, forensische Anthropologin am CURML in Lausanne und Dozentin des Kurses.

“Wenn es sich um ein Massengrab handelt, muss man zuerst die Situation verstehen – wie viele Individuen dort liegen, welche der Überreste menschlich sind und welche Elemente [für die Analyse] entnommen werden können”, sagt sie.

Als Mexiko 2019 den sogenannten Ausserordentlichen Mechanismus zur forensischen Identifizierung einrichtete, bestand die Hoffnung, dass sich diese anspruchsvolle Arbeit auszahlen würde.

Ziel ist, die mehr als 52’000 Leichen zu identifizieren, die bis August 2021 geborgen worden sind. Der Mechanismus ist jedoch nur schwer in Gang gekommen, vor allem wegen der hohen Personalfluktuation, sagt Coralli.

Im Jahr 2018 trat in Mexiko das Allgemeine Gesetz über das Verschwindenlassen von Personen in Kraft. Es enthält eine Definition für gewaltsames Verschwindenlassen (Verschwindenlassen, an dem der Staat direkt oder indirekt beteiligt ist) und Verschwindenlassen durch Privatpersonen und schafft ein nationales Fahndungssystem.

Dieses System besteht unter anderem aus einer nationalen Fahndungskommission, einer lokalen Fahndungskommission in jedem der 32 Bundesstaaten des Landes sowie einer neuen, auf das Verschwindenlassen von Personen spezialisierten Bundesstaatsanwaltschaft und ähnlichen Staatsanwaltschaften auf Ebene der Bundesstaaten.

Im Rahmen des allgemeinen Gesetzes wurde ein neues Register für vermisste und verschwundene Personen eingerichtet, das jedoch alle Kategorien von vermissten und verschwundenen Personen umfasst, einschliesslich jener, die freiwillig verschwunden sind, und jener, die aufgrund von Ereignissen vermisst werden, die nicht in Zusammenhang mit einer Straftat stehen. Die genaue Zahl der gewaltsam verschwundenen Personen ist daher nicht bekannt.

Quelle: Ana Srovin Coralli, Coordination between the Search and Criminal Investigations Concerning Disappeared Persons.Externer Link

Für die Angehörigen könnte dies ein weiteres Zeichen für das Versagen der Behörden bei der Aufarbeitung der Verschwundenen sein. Champod sagt jedoch, er habe “Bereitschaft und Engagement” bei den Beamten gesehen, die Verfahren zu verbessern und die Verantwortlichen zu finden, zu identifizieren und gegebenenfalls sogar strafrechtlich zu verfolgen.

“Letztendlich sind es die Menschen und die Koordination zwischen ihnen, die diese Probleme lösen werden”, sagt er.

Flores und die anderen Familien haben auf nichts anderes gewartet: Sie wollen mit den Behörden zusammenarbeiten, um ihre Kinder wieder nach Hause zu bringen – tot oder lebendig.

“Die Hoffnung stirbt zuletzt”, sagt die Mutter. “Wir wollen ein Mexiko, das kein Massengrab mehr ist und in dem unsere Kinder wieder in Sicherheit leben können.”

 Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft