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Wie die Schweiz die Rechtsmedizin in Afrika unterstützt

Die Rechtsmedizin ist für die Suche nach Gerechtigkeit und den Kampf gegen Straflosigkeit von entscheidender Bedeutung. Doch in vielen afrikanischen Ländern gibt es nur wenige praktizierende Rechtsmediziner:innen. Ein medizinisches Institut in der Schweiz arbeitet daran, dies zu ändern.

An den Tagen, an denen Tidianie Mogue eine Autopsie vornehmen muss, zieht die Rechtsmedizinerin ihre Schutzkleidung an – Einwegkittel, Handschuhe, Haube und Schuhüberzieher.

Das Zentralspital von Yaoundé, in dem sie arbeitet, ist zwar das grösste in Kamerun, kann sich aber die Kosten für diese grundlegenden Arbeitsutensilien nicht immer leisten.

“Wir müssen um das Material kämpfen, das wir brauchen”, sagt Mogue in einem Videointerview mit SWI swissinfo.ch. “Manchmal bitten wir die Familien [der Verstorbenen] um einen Beitrag, damit wir Handschuhe oder Skalpelle kaufen können.”

Die Herausforderungen gehen weiter: Mogue und die drei anderen forensischen Pathologen des Spitals müssen sich mit rudimentären Autopsieräumen begnügen, die manchmal nur mit einem Tisch und einem Wasserhahn ausgestattet sind.

Seit Jahren bemühen sich die Ärzt:innen um mehr Mittel für ihre Arbeit. “Aber es ändert sich nichts”, sagt Mogue, trotz der hohen Fallzahlen, die sie zu bearbeiten haben. Sie schätzt, dass es in ganz Kamerun (27 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner) nur etwa acht staatlich angestellte Rechtsmediziner:innen gibt.

Das Spektrum schwerer Verbrechen in Kamerun reicht von der Tötung von Zivilpersonen durch die Streitkräfte im konfliktgeplagten Nordwesten des Landes, über die Ermordung von Journalist:innen bis hin zu Mob-Angriffen auf Mitglieder der LGBTQ+-Community.

Keine Gerechtigkeit

Kamerun ist eines von mehreren afrikanischen Ländern, die mit einem Mangel an Expertise in der Rechtsmedizin zu kämpfen haben. Dazu gehört auch die forensische Pathologie, also die Untersuchung verdächtiger Todesfälle durch Obduktion.

In Burundi ist die Gerichtsmedizin “praktisch nicht existent”, sagt Bamtama Mossi, der Direktor des Regionalspitals von Rumonge im Westen des Landes.

“Wir haben nirgendwo [in Burundi] Rechtsmedizinerinnen oder -mediziner, die in diesem Bereich spezialisiert sind”, schreibt er in einer E-Mail.

“Wenn wir von der Polizei oder den Gerichten um Hilfe bei der Suche nach Beweisen gebeten werden, müssen wir uns auf körperliche Untersuchungen und zusätzliche Tests beschränken, die nicht zur Klärung des Sachverhalts beitragen.”

Leichenhalle eines Regionalspitals in Burundi
Die Leichenhalle des Regionalspitals von Rumonge in Burundi, einem Land, in dem es keine forensische Pathologie gibt, die Obduktionen für die Justiz durchführt. CURML

Angesichts des jahrzehntelangen Konflikts, den das Land hinter sich hat, könnte die Gerichtsmedizin eine wichtige Rolle spielen, meint Mossi: Indem sie die Opfer identifiziert und feststellt, wann und wie sie gestorben sind, könne sie helfen, “die Wahrheit über die Kriege zu rekonstruieren”.

Für die Leiterin des Universitätszentrums für Rechtsmedizin Lausanne-Genf (CURML), Silke Grabherr, äussert sich der Stellenwert der Rechtsmedizin in der Rechtsprechung vor allem in einem Punkt: “Der Körper ist das wichtigste Beweisstück.”

“Wenn man nicht in der Lage ist, diesen Beweis zu interpretieren – die Ursache und die Umstände des Todes, ob er natürlich oder unnatürlich war –, dann kann keine Gerechtigkeit geübt werden”, sagt sie.

Das CURML ist eines von sieben Instituten für RechtsmedizinExterner Link, die in der Schweiz (9 Millionen Einwohnerinnen und Einwohner) zusammen mit so genannten Amtsarztsystemen forensisch-pathologische Dienstleistungen anbieten.

Zurzeit arbeitet es mit Organisationen in Burundi zusammen, um die dortige Lücke im Fachwissen zu schliessen. Der Plan sieht unter anderem vor, Burundier:innen für ein fünfjähriges Ausbildungsprogramm nach Genf zu bringen und schliesslich das erste Institut für Rechtsmedizin des Landes zu gründen.

Die Organisationen bemühen sich um eine Finanzierung dieses ehrgeizigen 12-jährigen Projekts durch die Schweizer Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza).

Die Idee zu diesem Projekt entstand, nachdem Mossi 2019 in die Schweiz gereist war, um an einem sechsmonatigen Weiterbildungsprogramm am CURMLExterner Link teilzunehmen, das speziell für afrikanische Fachpersonen konzipiert wurde.

Der Kurs vermittelt praktische und theoretische Kenntnisse der Rechtsmedizin und bietet die Möglichkeit, Schweizer Justizinstitutionen zu besuchen und ein Kurzpraktikum zu absolvieren.

Kernstück des Kurses ist ein Modul, das sich mit dem Aufbau und der Finanzierung eines gerichtsmedizinischen Diensts befasst. Die Teilnehmer:innen sollen nach ihrer Rückkehr den Ball ins Rollen bringen können.

“Letztlich wollen wir, dass jedes Land in Afrika über Strukturen für die Ausübung der Rechtsmedizin verfügt”, sagt Ghislain Patrick Lessène, Kurskoordinator und Leiter der humanitären Rechtsmedizin am CURML.

In seinem Heimatland, der Zentralafrikanischen Republik (ZAR), kommt auf sechs Millionen Einwohnerinnen und Einwohner nur ein einziger staatlicher Rechtsmediziner.

Lessène, der in Genf Jura studiert hat, musste dies am eigenen Leib erfahren, als sein Vater 2016 mitten im Bürgerkrieg starb – seiner Familie wurde eine Autopsie verweigert, weil niemand dafür qualifiziert war.

Nach dem Tod seines Vaters war Lessène direkt an der Entwicklung des Weiterbildungsprogramms beteiligt, das vor allem Fachleuten offensteht – Richter:innen, Anwält:innen, Polizist:innen, Verwaltungsangestellten in Justiz- oder Gesundheitsministerien und Ärzt:innen.

Jedes Jahr übernehmen der Kanton Genf und die Schweizer Regierung die Studiengebühren von 6500 Franken für fünf bis acht der etwa zehn Teilnehmer:innen.

“Diese Menschen sind sehr mutig”

Die Schweizer Expert:innen sind nicht die einzigen, welche die Forensik in Afrika von ausserhalb des Kontinents unterstützen. Die Vereinten Nationen wollen die Demokratische Republik Kongo bei der Ausarbeitung einer nationalen Strategie für die Rechtsmedizin unterstützenExterner Link.

Deutschland hat die Renovierung eines Instituts für Rechtsmedizin an der Universität Cocody in der Elfenbeinküste finanziertExterner Link, das Diplome in Rechtsmedizin ausstellt.

Und Indien hat in Uganda einen Campus seiner National Forensics Science University eröffnetExterner Link.

Die Stärke der Schweiz liegt laut Grabherr in der hohen fachlichen Kompetenz. Während in anderen Ländern die Ausbildung zur Rechtsmedizinerin nur ein bis zwei Jahre dauert, müssen Rechtsmediziner in der Schweiz zusätzlich zum Medizinstudium ein fünfjähriges Studium absolvieren.

Darüber hinaus verfügt die Schweiz über Spitzenforschung und -technologie in diesem Bereich, beispielsweise in der forensischen Bildgebung, so dass die Ärzteschaft über modernstes Fachwissen verfügt.

Scanner für die postmortale Angiographie
Die Teilnehmenden des Weiterbildungsprogramms erhalten einen Einblick in die neusten Technologien des Universitätszentrums für Rechtsmedizin Lausanne-Genf, darunter dieser Scanner für die postmortale Angiographie. CURML

Allein das CURML verfügt über 12 Abteilungen, die sich unter anderem mit Toxikologie, forensischer Anthropologie und forensischer Genetik befassen.

Entscheidend ist, dass der Lohn der Schweizer Rechtsmedizinerinnen und -mediziner unabhängig von der Anzahl der durchgeführten Autopsien und deren Ergebnissen ist. Dieses System schützt sie vor Druck von aussen – anders als in Ländern, in denen sie pro Fall bezahlt werden.

“Das heisst, je mehr Fälle sie annehmen, desto besser werden sie bezahlt”, sagt Grabherr. “Und das öffnet manchmal der Korruption Tür und Tor.”

In manchen Ländern werden Rechtsmediziner:innen unter Druck gesetzt, eine Autopsie abzubrechen oder die Schlussfolgerungen ihres Berichts zu ändern. In Kamerun, sagt Mogue, sei sie während ihrer elfjährigen Karriere manchmal bedroht worden, und ihr seien Bestechungsgelder angeboten worden.

“Jemand, der die forensische Pathologie und Rechtsmedizin in seinem Land einführen will, ist jemand, der die Wahrheit finden und die Korruption bekämpfen will”, sagt Grabherr. “Diese Menschen sind sehr mutig.”

Ein laufendes Projekt

Doch um diese Expertise von Grund auf aufzubauen, braucht es mehr als Mut. Mossi spricht von “grossen Herausforderungen, die der Einführung der Rechtsmedizin in Burundi im Wege stehen”.

“Wir stehen in ständigem Austausch mit der Regierung über die Notwendigkeit, diesen Bereich zu entwickeln”, schreibt er. Im Spital von Rumonge haben Mossi und seine Kolleg:innen die Initiative ergriffen und mit Unterstützung des CURML eine forensische Beratungsstelle für Gewaltopfer eingerichtet.

Im Mittelpunkt des neuen Angebots stehen Frauen, die unter geschlechtsspezifischer Gewalt leiden – in Burundi geben rund 48 Prozent der Frauen an, körperliche oder sexuelle Gewalt durch einen Partner erfahrenExterner Link zu haben.

Die Gesundheitsbehörden seien zunehmend offen für die Idee, lokales Fachwissen aufzubauen, da das Land derzeit in Sachen Rechtsmedizin auf Kenia angewiesen sei, sagt Lessène.

Auch Mogue arbeitet in Kamerun daran, das Bewusstsein für ihren Beruf zu schärfen. Die Rechtsmedizinerin besuchte 2021 einen CURML-Kurs und reiste auf eigene Kosten in die Schweiz.

Seitdem haben sie und ihre Kolleg:innen einen neuen Weg eingeschlagen, um den von ihnen angestrebten, gut ausgestatteten forensischen Dienst zu erhalten: Sie beantragten eine Finanzierung durch die Schweizer Entwicklungsagentur.

Zuerst müsse aber die Bewilligung des kamerunischen Gesundheitsministeriums eingeholt werden, ein kompliziertes Verfahren ohne Erfolgsgarantie, sagt sie.

Mogues Reise in die Schweiz hat sich aber auch in anderer Hinsicht gelohnt.

“Trotz fehlender Ressourcen konnte ich meine tägliche Arbeit verbessern”, sagt sie. Sie habe ihr Lernmaterial mit der Kriminalpolizei in Yaoundé geteilt, was zu einer besseren Zusammenarbeit geführt habe.

Mogue und ihre Kolleg:innen schicken jetzt auch Proben zur Analyse an das CURML, für ein paar hundert Franken pro Fall. Manchmal bezahlen die Familien der Verstorbenen die Analyse selbst, weil es kein Budget oder kein Labor für Toxikologie gibt – eine Expertise, die sich die Ärztin gerne als Teil ihrer gewünschten Abteilung für Rechtsmedizin wünscht.

“Auf diese Weise müssten wir keine Proben mehr zur Analyse einsenden, ausser in den grossen Fällen”, sagt Mogue. “Wenn wir nur das Nötigste hätten, wäre das schon eine gute Sache.”

Die Schweiz bietet auch Behörden in Mexiko eine forensische Ausbildung an – lesen Sie hier mehr dazu:

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Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

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