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Ein Schnupperjahr in der Schweiz

Diese Jugendlichen aus aller Welt freuen sich über ihren einjährigen Sozialeinsatz in der Schweiz. ICYE

Andere Kulturen entdecken, erfahren, wie die Menschen in anderen Ländern leben – das wollen die junge Uganderin Mary und der junge Mexikaner Rafael. Deshalb befinden sie sich derzeit in einem einjährigen Sozialeinsatz in der Schweiz.

Möglich macht den Sozialeinsatz für die 22-jährige Mary Birungi und den 18-jährigen Rafael Martinez de Alvo Calero sowie für rund 20 weitere Jugendliche aus unterschiedlichen Ländern das Austauschprogramm von International Cultural Youth Exchange (ICYE). Im Gegenzug vermittelt die Organisation Schweizer Jugendlichen Sozialpraktika im Ausland.

Die meisten der Jugendlichen kommen aus lateinamerikanischen Ländern, einige aus Afrika und Asien sowie einer aus Deutschland.

Die Wirtschaftsstudentin Mary wollte unbedingt mal eine Pause machen und etwas Anderes, Neues sehen. “Mir schwebte schon lange ein Aufenthalt in der Schweiz vor: Hier herrscht politische Stabilität, es gibt nie Krieg”, sagt sie gegenüber swissinfo.ch.

Rafael, der in Mexiko die Matura machte, wollte unbedingt Deutsch lernen. Weil es in Deutschland im ICYE-Programm keinen Platz mehr hatte, wählte er die Schweiz aus.

Erste Eindrücke

“Bei der Ankunft auf dem Flughafen Zürich dauerte es eine Weile, bis ich abgeholt wurde. Ich wartete eine Stunde lang, ohne dass mich jemand fragte, ob man mir helfen könne”, erzählt Mary.

In Uganda sei das ganz anders: Als Ausländer, der nicht ganz zurechtkommt, müsste man nicht einmal zehn Minuten lang warten, bis jemand komme und frage, ob man helfen könne.

“Weil ich noch kein Deutsch konnte, verstand ich überhaupt nichts, als ich auf dem Flughafen Zürich ankam”, sagt Rafael gegenüber swissinfo.ch. “Der erste Zug, in den ich in der Schweiz einstieg, war total mit Graffitis besprayt. Was für eine Überraschung, in einem Land, das in Mexiko als das sauberste gilt!”

Vertrauen ist wichtig

“Ich habe gelernt, dass man die Schweizer länger kennen muss, bis sie einem trauen, freundlich und behilflich sind.” Mary hat nach einem halben Jahr jetzt Schweizer Freunde, mit denen sie manchmal essen, etwas trinken oder ins Kino geht. “Dann ist da noch meine Gastfamilie: Ich fühle mich bei ihr fast wie zu Hause in Uganda.”

Auch Rafael trifft sich jetzt ab und zu nach der Arbeit mit Schweizer Kollegen von seinem Praktikumsplatz. Zu Beginn seines Aufenthaltes habe er aber oft Heimweh gehabt, lacht er.

Erfahrung mit Rassismus

Mary erlebte in der kurzen Zeit in der Schweiz auch Rassismus. “In einem überfüllten Zug fragte ich eine ältere Dame, ob ich neben ihr Platz nehmen könne. Sie sagte nein. Dann fragte sie ein stehendes Schweizer Kind, ob es sich zu ihr setzen wolle.”

Das schockierte die junge Uganderin. “Wenn die Dame wenigstens gesagt hätte, wieso ich neben ihr nicht Platz nehmen darf – aber so…”

Rafael empfindet gewisse alte Leute etwas misstrauisch, wenn sie im Gespräch mit ihm merken, dass er Lateinamerikaner ist.

Eine total andere Arbeit

Mary arbeitet als Praktikantin in der Heilpädagogischen Schule Bern mit etwa 50 behinderten Kindern. “Wir geben den Kindern zu essen, lehren sie sprechen, lesen, rechnen und singen mit ihnen.”

Eine total andere Arbeit also als das Wirtschaftsstudium in Uganda. “Aber ich liebe die Arbeit an der Schule. Ich selber lerne viel dabei und habe den ganzen Tag mit Menschen zu tun.”

Rafael arbeitet ganztags in einem Kinderhort. “Die Arbeit mit Kindern – das jüngste ist drei Monate alt, die anderen sind zwischen vier und fünf – gefällt mir, ich lerne dabei auch Deutsch.”

Erwartungen und Realität

“Als ich 15 Jahre alt war, sprachen wir in der Schule über die Schweiz. Das tönte etwa so: Die Schweizer seien alle wie Polizisten. Das stimmt aber überhaupt nicht”, lacht Mary.

Man habe auch gesagt, die Schweiz sei eines der reichsten Länder der Welt und sehr teuer. “Das hingegen stimmt, das Leben hier ist wirklich wahnsinnig teuer. Und für fast alles muss man eine Kreditkarte haben.”

Rafael findet es toll, wie hier “alles top organisiert und sauber ist. Man kann in der Schweiz sehr gut leben”. Was er hingegen vermisst, ist die Wärme, die Offenheit, das Lachen der Menschen in Mexiko. “In der Schweiz sind die Leute – natürlich nicht alle – eher kalt, weniger offen. Wenn man im Zug zu laut lacht, fühlen sie sich gestört.”

Mühe mit Schweizer Käse

Das Essen sei komplett anders als in Afrika, sagt Mary. “In Uganda haben wir ein paar Hauptnahrungsmittel wie Bananen, Süsskartoffeln, Kasava, eine Art Kartoffelknolle.” Brot esse man nur zum Tee.

“Und dann dieser Schweizer Käse! Den mag ich gar nicht, der ist so schwer.” Andere Sachen isst sie aber gerne, zum Beispiel Risotto oder verschiedene Suppen.

Rafael findet, man müsse sich an das Schweizer Essen gewöhnen. “Jetzt finde ich es gut – ausser einer Sache: Ich mag den Schweizer Käse nicht – wie Mary”, lacht er. “Aber schon bald wollen sie in meinem Kinderhort eine Fondue-Party machen, da muss ich dann wohl oder übel mitessen.”

Engagement für behinderte Kinder auch in Uganda

Nach ihrem Sozialeinsatzjahr in der Schweiz wird Mary nach Uganda zurückgehen und ihr Studium abschliessen.

“Nachher möchte ich mich für etwas Ähnliches engagieren, wie ich es hier in der Schweiz gelernt habe. In Uganda denken weder die Eltern noch die Regierung daran, geistig und physisch behinderte Kinder in die Schule zu schicken. Man findet, dass dies Geld- und Zeitverschwendung wäre. Nur behinderte Kinder von reichen Eltern können in die Schule gehen.”

Hier in der Schweiz sehe sie selbst, wie diese Kinder vorwärts kämen, wenn man sich mit ihnen beschäftige. “Ich möchte in meiner Heimat mit Behörden und Kommissionen darüber sprechen, ob man da etwas machen kann.”

Paradiesischer öffentlicher Verkehr

Was Mary aus der Schweiz auch gerne nach Uganda mitnähme, ist der öffentliche Verkehr. Und da beginnt Mary, wie übrigens auch Rafael, zu schwärmen: “Schnelle Züge zu fast jeder Zeit an fast jeden Ort, S-Bahnen, Tram, Bus, die Strassen sind toll gebaut – ein Paradies. Bei uns gibt es lediglich Güterzüge, Buslinien und Strassen sind in einem schlechten Zustand.”

Weiter beeindruckt sie, dass man in der Schweiz keine Obdachlosen auf der Strasse sieht. “Und das politische System ist so gut, die Leute haben Arbeit, nicht wie in Uganda.”

Allerdings kommt hier ein kleiner Einwand: “Arbeit ist gut, aber die Pünktlichkeit dabei macht mir als Afrikanerin echt Mühe.”

Der International Cultural Youth Exchange (ICYE) organisiert Sozialeinsätze von sechs bis zwölf Monaten auf der ganzen Welt und Kurzeinsätze von einem bis vier Monaten in rund 30 Ländern.

Das Austauschprogramm richtet sich an 18- bis 30-Jährige. Ziel der Auslandaufenthalte ist die gegenseitige Verständigung zwischen verschiedenen Kulturen. Zudem soll der Sozialeinsatz zur Verbesserung der Fremdsprachkenntnisse beitragen.

Die Non-Profit-Organisation ICYE Schweiz bietet jährlich etwa 20 jungen Schweizerinnen und Schweizern Sozialpraktika im Ausland an. Zudem organisiert sie die Praktikumsplätze der ausländischen Volunteers in der Schweiz.

ICYE Schweiz ist Mitglied des internationalen Dachverbandes Federation of ICYE, zu dem rund 30 Länder gehören. Die ICYE sucht für ihre Austauschprogramme noch weitere Gastfamilien in Schweiz.

Der ICYE entstand kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aus einem bilateralen Austauschprogramm zwischen den USA und Deutschland. Der Grundgedanke war damals, einen Beitrag zur Versöhnung zwischen den Kriegsgegnern zu leisten.

Inzwischen hat sich dieses Austauschprogramm auf rund 30 Länder ausgeweitet. In jedem dieser Länder besteht ein unabhängiges ICYE-Komitee, das für die Betreuung der Austausch-Jugendlichen verantwortlich ist. Alle diese Komitees bilden einen internationalen Verband mit Sitz in Berlin.

Das heutige Komitee von ICYE Schweiz wurde 1960 als unabhängiger Verein mit Sitz in Bern gegründet. Seither nehmen Schweizer Austausch-Jugendliche am internationalen Programm teil.

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