In Florenz mit dem Engadin im Herzen

In den historischen Kaffeehäusern von Florenz kann man neben gutem Kaffee auch noch den Duft der Schweizer Emigration nach Italien einatmen. Im 19. Jahrhundert war Florenz das Ziel vieler Schweizer Emigranten, vor allem von Konditoren aus Graubünden.
Was wäre Florenz ohne die Schweizer? Wohl kaum das, was es heute ist. Denn die Schweizer haben im kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Leben dieser bedeutenden italienischen Stadt tiefe Spuren hinterlassen. Ein wichtiges Beispiel sind die Kaffeehäuser und Konditoreien. Ihre Geschichte ist häufig mit dem kleinen Bündner Ort Sent im Unterengadin verknüpft.
«Von 68 Kaffeehäusern und Konditoreien, die 1848 in Florenz gezählt wurden, gehörten 27 Schweizern. Von diesen wiederum stammten 15 aus Sent», heisst es im Essay «Dall’En all’Arno» (Vom Inn zum Arno) von Anna Maria Pult Quaglia, Professorin für moderne Geschichte an der Universität Pisa. Sie selbst stammt von einer Familie aus Sent ab, einem kleinen Dorf am Fluss Inn, der durchs Engadin fliesst.
Drei Gründe für die Emigration
Die massive Präsenz der Bündner im 19. Jahrhunderte hat mehrere Gründe. «In der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts konnten die Bündner Konditoren nicht in Venedig bleiben, weil sich die Beziehungen zwischen der Lagunenstadt und dem Freistaat der Drei Bünde verschlechtert haben», sagt Pult Quaglia im Gespräch mit swissinfo.ch im historischen Kaffeehaus Gilli an der Piazza della Repubblica. Dies habe dazu geführt, dass die Bündner in andere italienische Städte oder auch in europäische Hauptstädte weiter gezogen seien.
In Florenz hätten sie ein freundliches und tolerantes Klima angetroffen, auch dank der Nähe zur Hafenstadt Livorno. Diese garantierte eine offene, liberale und multiethnische Gemeinschaft. Sonderverordnungen sicherten Nicht-Christen Immunität zu. Es gab weder ein Ghetto für Juden noch die Inquisition.
Dazu kamen familiäre und verwandtschaftliche Gründe. «Wenn sich eine Familie aus Sent eingelebt hatte, wurden weitere Familien aus dem Heimatort geholt», erläutert Pult Quaglia. So kam es in der post-napoleonischen Zeit zu zwei Emigrationswellen von Bündnern nach Florenz, zuletzt in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts.
Zwischen Traum und Wirklichkeit
Wer aus den armen Bergdörfern des Engadins emigrierte, hoffte natürlich auf ein besseres Leben in der Stadt. Für einige von ihnen, die als Laufburschen auswanderten, setzte aber ein früher Tod allen Träumen ein Ende. An das tragische Schicksal dieser jungen Männer wird man auf dem reformierten Friedhof der Stadt mit namenslosen Gräbern erinnert. «Laufbursche Konditor» oder «Laufbursche Kellner» steht auf den Grabsteinen des Friedhofs Porta à Pinti.
Andere Auswanderer hatten mehr Glück: Zu erwähnen sind etwa die Familien Gilli aus dem Oberengadin, die Familie Juon aus Safien oder die Fasciati aus Bivio. An der Schwelle zwischen dem 19. und 20. Jahrhundert gehörten ihnen die drei gleichnamigen Kaffeehäuser an der Piazza della Repubblica, damals Piazza Vittorio Emanuele II.
«Dieser Platz entstand nach der Einigung Italiens an Stelle des alten Marktplatzes. Es war das wirtschaftliche Zentrum der Stadt, und die Bündner konnten es sich leisten, dort präsent zu sein. Das spiegelt ihren wirtschaftlichen Reichtum», sagt Professorin Pult Quaglia.
Gilli, Giubbe Rosse e Paskowsky
Neben dem erwähnten Kaffeehaus Gilli, das auch auf Grund seiner schönen Jugendstilarchitektur Einheimische und Touristen anzieht, sind die Kaffeehäuser Giubbe Rosse und Paskowski zu nennen.
Das Café Giubbe Rosse, das einst von den deutschen Brüdern Reininghaus gegründet worden war, wurde Anfang des 20. Jahrhunderts von der Familie Juon übernommen. Das Lokal, das nach den Farben der Uniformen seiner Mitarbeiter benannt ist, war ein Treffpunkt für Intellektuelle und Künstler aus der Gruppe der Zeitschrift «Lacerba» und des Futurismus, beispielsweise Palazzeschi, Papini, Soffici, Rosai.
Die Präsenz dieser extravaganten Persönlichkeiten wird in etlichen Schriften und Fotografien dokumentiert, die an den Wänden der ersten beiden Räume des Cafés aufgehängt sind.
Das dritte «Bündner Kaffeehaus» befindet sich gleich neben dem Gilli. Es heisst heute Paskowski. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts gehörte es Andrea Fasciati und trug den Namen Café Central, bevor es 1904 den Namen der neuen Eigentümer erhielt. Auch dieses historische Lokal ist praktisch in seinem ursprünglichen Stil erhalten geblieben.
Sent im Herzen
«Die Präsenz der Schweizer in Florenz dauert teilweise bis heute an, doch die früheren Berufe wurden aufgegeben, zumeist an der Schwelle zum 20. Jahrhundert oder nach dem Zweiten Weltkrieg», schreibt Pult Quaglia in ihrem erwähnten Essay.
Trotz der grossen Entfernung zu ihrem Heimatort haben die Familien aus Sent immer einen engen Kontakt zu ihrem Dorf im Unterengadin gepflegt. Manche gingen sogar nach Sent zurück, um dort zu sterben, andere haben dort Häuser gebaut – nach italienischem Vorbild. Sogar der romanische Dialekt in diesem Ort hat sich etwas italianisiert.
Selbst heute noch kann man in Sent im Sommer junge Auslandschweizer aus Italien treffen. «Ich habe den Sommer immer in Sent verbracht und dort viele andere Schweizer aus Italien getroffen, manchmal aus der vierten oder fünften Generation. Diese Tradition hält bis heute an», erzählt Pult Quaglia.
Sent ist eine Gemeinde im Unterengadin (zwischen Scuol und Ramosch). Das Bündner Dorf liegt auf der linken Seite des Inn auf einer Höhe von zirka 1400 Metern über Meer.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts war Sent die bevölkerungsreichste Gemeinde im Engadin. 1835 zählte das Dorf 1200 Einwohner, heute sind es noch 850. Im Jahr 2000 gaben zwei Drittel der Bewohner Rumantsch als Hauptsprache an.
Es gibt keine Statistiken, die für das 19. Jahrhundert und den Beginn des 20. Jahrhunderts die genaue Zahl der Schweizer in Italien ausweisen. Schweizer im Ausland mussten damals sich bei den jeweiligen diplomatischen Vertretungen noch nicht melden.
Es ist davon auszugehen, dass die Zahl der Schweizer in Italien im Jahr 1870 rund 10’000 Personen betrug.
1881 waren es 12’000. Damit lag die Schweizer Gemeinschaft auf Rang 2 hinter den Österreichern (16’000) und vor den Franzosen (11’000), Engländern (7000) und Deutschen (5000).
1901 zählte man rund 11’000 Schweizer. Die Gesamtzahl der Ausländer in Italien belief sich damals auf 61’000 bei einer Bevölkerungszahl von 34 Millionen.
Im Jahr 1898 war Mailand die italienische Stadt mit den meisten Schweizern (5000), gefolgt von Turin (2200), Neapel und Livorno (je 1200) und Rom (700). Daneben gab es noch kleiner Gemeinschaften, beispielsweise den Circolo Svizzera (Schweizer Kreis) von Florenz oder die reformierte Kirche Schweiz.
(Quelle: Quelli dell’Amicizia, il Circolo svizzero di Firenze di David Tarallo, 2010 Edizioni Nerbini)
Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob

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