ETH-Politologe: Abstimmungen eine «Warnung» für Italiens Linke

Die Referenden in Italien erreichten die nötige Mindestbeteiligung nicht. ETH-Politikwissenschaftler Giorgio Malet erklärt im Interview, warum es wenig überrascht, dass Ministerpräsidentin Giorgia Meloni nicht abstimmte und welche Rolle die direkte Demokratie in Italien hat.
Wie meistens in den letzten 30 Jahren sind die jüngsten Abstimmungsvorlagen in Italien an zu tiefer Wahlbeteiligung gescheitert. Statt der für die Gültigkeit nötigen 50% der Wahlberechtigten haben an Pfingsten 2025 nur etwa 30% der Italiener:innen abgestimmt.
Viele Beobachtende hatten erwartet, dass das Quorum verfehlt werden wird. Trotzdem hoffte die Opposition aus Gewerkschaften und Mitte-Links-Parteien. Sie erklärten die Abstimmungen zum Stimmungstest über die rechte italienische Regierung.
Worüber hat Italien abgestimmt?
Immerhin 14 Millionen Italiener:innen gingen an die Urne. Sie entschieden über fünf ReferendumsfragenExterner Link. Vier davon sollten Teile einer Arbeitsmarktreform in den 2010er-Jahren zurücknehmen. Die fünfte hätte dazu geführt, dass man für die Bewerbung um das italienische Bürgerrecht künftig mindestens fünf – statt aktuell 10 Jahre – im Land leben muss.
Das Ergebnis enthält eine unbequeme Wahrheit: Während die ersten vier Fragen Ja-Anteile von 86 bis 88% erhielten, waren es bei der Bürgerrechtsabstimmung nur 65% Ja-Stimmen.
Der Politikwissenschaftler Giorgio Malet sagt, dieses Ergebnis sei eine «Nachricht an die Linke», dass ein Teil ihres Elektorats gegen ein liberaleres Bürgerrecht ist.
«Es ist eine Lektion und eine Warnung, vielleicht auch für linke Politikerinnen und Politiker im Ausland: Ein Teil der abstimmenden Linken ist gegen Bürgerrechtserleichterungen für Eingewanderte», sagt er. Malet ist Politikwissenschaftler an der ETH Zürich und hat unter anderem dazu geforscht, wie sich der Brexit auf die EU-Befürwortung in anderen Ländern ausgewirkt hat.

Es waren darum vor allem Linke, die in Italien abstimmten, weil das rechte politische Lager im Abstimmungskampf für die Stimmenthaltung, beziehungsweise die Nichtbeteiligung geworben hat.
Warum hat Giorgia Meloni nicht abgestimmt?
Die ultrarechte Ministerpräsidentin Giorgia Meloni gehörte zur nicht-stimmenden Mehrheit, besuchte aber trotzdem demonstrativ ein Abstimmungslokal.
Ihre Gegner:innen kritisierten es als undemokratisch, dass Meloni statt für ein Nein fürs Nicht-Abstimmen warb. Laut Giorgio Malet passt dies aber in die Logik italienischer Abstimmungskämpfe. «Für die Gegenseite ist es eine strategisch sinnvolle Entscheidung», erklärt Malet.
Es mache Sinn für die Enthaltung zu werben – und ebenso gehöre es «zum politischen Spiel in Italien» die Gegenseite dafür zu kritisieren. «Gerade, wenn man die letzten 30 Jahre anschaut, als die Wahlbeteiligung sank», führt Malet aus.
Italien kennt zwei Arten bindender Volksabstimmungen. Einerseits das seltenere VerfassungsreferendumExterner Link, ohne Quorum, mit dem eine vom Parlament beschlossene Verfassungsänderung zur Abstimmung gebracht wird.
Am 8. und 9. Juni 2025 stimmten die Italiener:innen aber, wie meistens, über abrogative Referenden ab. Bei einem abrogativen (aufhebenden) ReferendumExterner Link müssen 500’000 Italiener:innen für die Abschaffung eines bestehenden Gesetzes unterschreiben. Während das Verfassungsreferendum keine Mindestbeteiligung kennt, sind aufhebende Referenden nur gültig, wenn mindestens 50% der Wahlberechtigten an die Urne gehen. Und das tun sie fast nie.
Wann italienische Referenden erfolgreich waren
Letztmals gelang das bei den Abstimmungen 2011, als über Wasserprivatisierung, Kernenergie und über juristische Ausnahmen für hohe Politiker:innen entschieden wurde. Bei allen Referendumsfragen stimmten damals um die 95% dafür. Dies markierte den Anfang vom Ende der letzten Regierung von Silvio Berlusconi.
Malet sagt, in den 1970er- und 1980er-Jahren habe das aufhebende Referendum der italienischen Politik wichtige Veto-Impulse vermittelt. Doch in der heutigen Situation sieht er die momentane Praxis dieses Volksrechts kritisch.
«Wir haben eine Zunahme an Referenden als Reaktion auf die Krise des italienischen Parteiensystems erlebt. Aber kann das Referendum die Krise des Parteiensystems reparieren?», fragt Malet.
Eigentlich ginge es bei abrogativen Referenden darum, Gesetze aufzuheben. Doch dies werde zunehmend kreativ ausgelegt, um auch neue politische Vorschläge einzubringen.
Was in Italien anders ist als in der Schweiz
Dem Politikwissenschaftler stellt sich die Frage, wie direktdemokratische Elemente aufgebaut sein müssten, damit sie ein repräsentatives Politiksystem wie in Italien ergänzen. «Eine häufigere Anwendung des abrogativen Referendums trägt nicht dazu bei, die aktuellen Probleme des repräsentativen Systems zu lösen, insbesondere nicht den Kampf der politischen Parteien, die Forderungen der Wähler zu bündeln, und die abnehmende Rolle der Parlamente im politischen Entscheidungsprozess», erklärt Malet.
Die direktdemokratischen Rechte in Italien haben aus seiner Perspektive einen anderen Stellenwert als in der Schweiz, wo er sie als fundamental für die politische Legitimität der Regierung sieht. «In Italien kann das Parlament mit einer Vertrauensabstimmung die Regierung kontrollieren. In der Schweiz ist das Regierungskabinett gegenüber dem Parlament unabhängiger», führt Malet aus, «Entsprechend gibt es bei der Schweizer Regierung einen höheren Bedarf an politischer Legitimität durch Volksabstimmungen zwischen Wahlterminen.»
In Italien verschaffe das Parlament der Regierung Legitimität. Darum sei das politische System weniger abhängig von direkter Demokratie.
Editiert von Reto Gysi von Wartburg

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