Die globalen Folgen einer Schweiz ohne Gletscher

Die Gletscher der Schweiz könnten in Folge der Klimaerwärmung fast vollständig verschwinden. Das Abschmelzen des «Ewigen Eises» in den Alpen wird nicht nur Auswirkungen auf die grossen Flüsse in Westeuropa haben, sondern auch weit darüber hinaus.
Auf dem Jungfraujoch, fast 3500 Meter über dem Meeresspiegel in den Berner Alpen, treibt Andreas Linsbauer eine lange Metallstange in die frische Schneedecke. Nach vier Metern Tiefe kommt die Bohrung zum Stillstand. Er hat eine tiefer liegende, härtere und kompaktere Schneeschicht erreicht, die den Gletscher bedeckt.
«Als erste Reaktion würde ich von nicht-optimalen Bedingungen sprechen», sagt Linsbauer, Glaziologe an der Universität Zürich. Normalerweise lägen hier am Ende des Winters zwischen sechs und sieben Meter Neuschnee.
Linsbauer steht am oberen Ende des Aletschgletschers, des längsten Gletschers Europas. Er zeigt auf, wie die Schneemenge gemessen wird, die sich in einem Jahr auf dem Gletscher ansammelt.
Diese Zahl gibt einen ersten Hinweis darauf, wie sich der Gletscher in den kommenden und wärmeren Monaten entwickeln wird. «Die Messmethode ist seit mehr als einem Jahrhundert praktisch gleichgeblieben», sagt er.
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Die Schweizer Gletscher befinden sich in keinem guten Zustand. Der Rückgang der Eismassen erreichte in den Jahren 2022 und 2023 Rekordwerte.
«Die letzten Jahre waren extrem», sagte Matthias Huss, Direktor des Schweizerischen Gletscherbeobachtungsnetzes GlamosExterner Link, bei einer Fachtagung, die anlässlich des Weltgletschertags (21. März) in der wissenschaftlichen Forschungsstation auf dem Jungfraujoch stattfand.
Seit den 1970er-Jahren ist die Durchschnittstemperatur in den Schweizer Alpen um drei Grad Celsius gestiegen, doppelt so stark wie im weltweiten Durchschnitt.
>> Mehr zum Thema: Mit der weltweiten Gletscherschmelze wird das Monitoring der Schweiz immer wichtiger
Noch ist es zu früh, um zu wissen, wie sich der Aletschgletscher und andere Alpengletscher während des Winters entwickelt haben. Die offiziellen Glamos-Messungen werden erst in einigen Wochen beginnen.
Erste Beobachtungen deuten jedoch darauf hin, dass die Schneemenge auf den Gletschern vor allem in den östlichen Landesteilen deutlich unter dem Durchschnitt liegt.
Das weitere Abschmelzen der Gletscher durch die globale Erwärmung wird vielfältige Folgen haben, warnt Huss. Die alpine Landschaft wird sich stark verändern und neue Seen werden entstehen. Erdrutsche und Überschwemmungen werden häufiger werden.
In heissen und trockenen Perioden wird sich die Wasserknappheit verstärken. Der Rückzug der Schweizer Gletscher werde bis zum Meer spürbar sein, sagt Huss.

Das Ende der Schweizer Gletscher im Jahr 2100?
Seit 1850 hat die Schweiz eine Gletscherfläche in der Grösse des Kantons Uri verloren. Mehr als 1000 kleine Gletscher sind ganz verschwundenExterner Link.
Das Volumen der verbliebenen 1340 Schweizer Gletscher ist seit dem Jahr 2000 um fast 40 Prozent geschrumpft. Der durchschnittliche Verlust entspricht mehr als einem Meter Eisdicke pro Jahr.
Angesichts der gewaltigen Eis- und Schneemassen, die sich vom Jungfraujoch talwärts erstrecken, ist es kaum vorstellbar, dass der Aletschgletscher in den nächsten 75 Jahren verschwinden könnte. Am Konkordiaplatz, wo die vier kleinen Gletscher zum Aletsch zusammenfliessen, ist die Eismasse 1,5 km breit und 800 Meter dick.

Doch laut neuen Prognosemodellen, die erstmals auch die Hitzeperioden 2022 und 2023 berücksichtigen, werden bis 2100 auch die grössten und höchstgelegenen Gletscher der Schweiz verschwunden sein. Zumindest, wenn die Treibhausgasemissionen nicht drastisch sinken.
«Wenn wir jedoch das Ziel des Pariser Klimaabkommens erreichen und die globale Erwärmung auf maximal 1,5 bis 2 Grad Celsius stabil halten, könnten unsere Enkelkinder noch mindestens einen Viertel der Schweizer Gletscher sehen», sagt Daniel FarinottiExterner Link, Glaziologe an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH) Zürich.

Europäische Flüsse: Weniger Wasser im Sommer
Die Gletscher speichern das Wasser der Schneefälle im Winter und geben es im Sommer wieder ab. Das Schmelzwasser wird zur Energiegewinnung, zur Bewässerung von Feldern und zur Wasserversorgung der Schweizer Bevölkerung genutzt.
Das Eiswasser der Alpen speist die grossen Flüsse Westeuropas wie den Rhein, die Donau und den Po. Das Schmelzwasser aus dem Aletsch gelangt in die Rhone, die durch das Wallis, Genf und Südfrankreich fliesst, bevor sie ins Mittelmeer mündet.
Fast 30 Prozent des Abflusses der Rhone in Genf stammen von den Gletschern. Und in Dürrezeiten kann dieser Anteil noch höher seinExterner Link.
«Seit 1980 hat die Gletscherschmelze zugenommen, was für die grossen Flüsse in Europa gut ist», sagt Glamos-Chef Huss. Allerdings sind die Gletscher inzwischen so stark geschmolzen, dass sie bald weniger Wasser abgeben werden.
Der «Peak Water», also der Zeitpunkt, an dem der Schmelzwasserabfluss sein Maximum erreicht, sei in den Alpen bereits erreicht worden oder werde in den nächsten Jahren erreicht.
“Wir haben die Gletscher bereits wie Zitronen ausgepresst.»
Matthias Huss, Glaziologe
Das bedeutet, dass es in den Alpentälern und den grossen europäischen Flüssen weniger Wasser geben wird.
Dies dürfte Folgen für die Schifffahrt, die Landwirtschaft, die Ökosysteme, die Trinkwasserressourcen und die Energieerzeugung haben.
In Frankreich wird das Wasser der Rhone von etwa zwanzig Wasserkraftwerken genutzt und kühlt die Reaktoren von vier Kernkraftwerken.
In Zukunft wird die Menge des Schmelzwassers selbst bei wärmeren Sommern gegenüber heute und einer höheren Schmelzrate abnehmen. Die Gletscher werden nicht mehr in der Lage sein, die Auswirkungen immer häufigerer und längerer Dürreperioden abzumildern.
«Bisher wurde die Wasserknappheit durch das zusätzliche Wasser aus der Gletscherschmelze kompensiert, aber jetzt nimmt das Phänomen langsam ab», sagt Huss. «Wir haben die Gletscher bereits wie Zitronen ausgepresst.»
In den meisten anderen Einzugsgebieten mit vielen kleinen Gletschern, zum Beispiel in Westkanada und Südamerika, ist der «Peak Water» bereits erreichtExterner Link. In Zentralasien und im Himalaya wird erwartet, dass der jährliche Gletscherabfluss um die Mitte des Jahrhunderts seinen Höhepunkt erreicht.
>> Die untenstehende Grafik zeigt, dass der «Peak Water» der Schweizer Gletscher erreicht ist, unabhängig vom betrachteten Klimaerwärmungsszenario:

Der Meeresspiegel könnte bis einen Meter steigen
Das weltweite Abschmelzen der Gebirgsgletscher und der Eiskappen in Grönland und der Antarktis trägt wesentlich zum Anstieg des Meeresspiegels bei, erklärt ETH-Forscher Daniel Farinotti.
Laut einer StudieExterner Link, die im Jahr 2021 im Fachmagazin Nature veröffentlicht wurde, verursacht dieses Phänomen bis zu 21 Prozent des zwischen 2015 und 2019 verzeichneten Anstiegs des Meeresspiegels.
Das Schmelzen der Schweizer Gletscher und der Gletscher im Alpenraum trägt allerdings nur geringfügig zum Anstieg des Meeresspiegels beiExterner Link.
Die Gletscher schmelzen jedoch überall auf der Welt und werden in den kommenden Jahrzehnten enorme Mengen an Wasser freisetzen. Je nach Klimaszenario könnte der Meeresspiegel bis 2100 um 50 bis 100 Zentimeter ansteigen.
Auswirkungen auf den Tourismus
Die Alpengletscher sind nicht nur ein wertvolles Wasserreservoir, sondern auch eine touristische Attraktion, die jedes Jahr unzählige Menschen aus der ganzen Welt in ihren Bann zieht. Im Jahr 2024 besuchten mehr als eine Million Personen das JungfraujochExterner Link, wo sich die höchstgelegene Bahnstation Europas befindet.
Wenn es keine Gletscher mehr gibt, müssen sich weltberühmte Destinationen wie Zermatt am Fuss des Matterhorns oder das Jungfraujoch anders präsentieren, schreibt die Schweizerische Akademie der Naturwissenschaften in einem soeben veröffentlichten FaktenblattExterner Link.

«Die Schweizer Tourismusbranche beobachtet die Folgen des Klimawandels genau», schreibt André Aschwanden, Mediensprecher von Schweiz Tourismus, auf Anfrage von SWI swissinfo.ch.
Berge und Gletscher seien schon immer eine sehr wichtige touristische Attraktion in der Schweiz gewesen und blieben es auch. Es sei aber schwierig vorherzusagen, inwieweit sich das Schmelzen der Gletscher auf die Tourismuszahlen auswirken könnte.
«Eine Schweiz ohne Gletscher wäre für britische Feriengäste sicher weniger attraktiv. Eines der schönsten Dinge beim Wandern im Sommer ist es, die Gletscher in der Ferne zu sehen», sagt Els Van Veelen von «Walkers Britain», einem britischen Reiseveranstalter, der Wanderferien in der Schweiz und in Europa anbietet.
Der Rückzug der Alpengletscher hat vorerst keine negativen Auswirkungen auf die Stauseen. Die Entwicklung hat jedoch an einigen Stellen zu einer Zunahme von Steinschlägen geführt. «Es kann sein, dass wir in Zukunft einige unserer Wanderrouten ändern müssen», sagt Van Veelen.
Glaziologe Huss kann sich eine Schweiz ohne Gletscher nicht vorstellen. «Ich bin sicher, dass es noch einige geben wird, wenn ich in Rente gehe», prophezeit er.
Aber seine Kinder oder Enkelkinder könnten möglicherweise in einem Alpengebiet ohne Gletscher aufwachsen: «Es fällt mir schwer zu akzeptieren, dass dies in Zukunft der Fall sein könnte.»
Editiert von Gabe Bullard, Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob/raf

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