Nepal und der Himalaya: vom Leiden der Gletscher auf dem Dach der Welt

Das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya erhöht das Risiko katastrophaler Überschwemmungen und verringert die Süsswasserressourcen für fast zwei Milliarden Menschen. Die Herausforderungen in Bezug auf die Klimaanpassung in einem armen Land wie Nepal sind gewaltig.
Mit 8848 Metern ist der Mount Everest der höchste Berg der Erde. Diese Höhe schützt den Berg jedoch nicht vor den Auswirkungen der globalen Erwärmung. Die Eisdicke des Gletschers am South Col, dem höchsten Punkt des Everest, ist seit Ende der 1990er-Jahre um mehr als 54 Meter geschrumpftExterner Link.
«Jüngste Studien zeigen, dass die Gletscher im Himalaya immer schneller schmelzen», sagt Sharad Joshi, Experte für die Kryosphäre am International Centre for Integrated Mountain Development (ICIMOD)Externer Link, einer Organisation, die sich für die nachhaltige Entwicklung der Bergregionen am Hindukusch und im Himalaya einsetzt.
Joshi ist der nationale Korrespondent in Nepal für den World Glacier Monitoring Service (WGMS)Externer Link, den weltweiten Gletscher-Beobachtungsdienst, der seinen Sitz in der Schweiz hat.
Gletscher, lokaler Rückgang und globale Auswirkungen
Der World Glacier Monitoring Service (WGMS)Externer Link sammelt und analysiert Daten zu Massenbilanz, Volumen, Ausdehnung und Länge der Gletscher auf der ganzen Erde.
Dieser Dienst wurde 1986 gegründet und hat seinen Sitz an der Universität Zürich. Der WGMS verfügt über ein Netz von nationalen Korrespondentinnen und Korrespondenten in mehr als 40 Ländern.
Anlässlich des Internationalen Jahres zum Schutz der Gletscher hat SWI swissinfo einige von ihnen kontaktiert, um sich über den Zustand der Gletscher in ihrer Region, die Folgen der Eisschmelze und Anpassungsstrategien zu informieren.
Yala-Gletscher: Gut beobachtet, stark geschrumpft
Das Schmelzen der Gletscher im Hindukusch-HimalayaExterner Link, einer Region, die sich über acht Länder erstreckt, wird durch den globalen Temperaturanstieg und die lokalen Wetterbedingungen verursacht: trockene Kälte und starke Winde.
Die herkömmlichen Niederschlagmuster verändern sich, und selbst in grossen Höhen nehmen Schneefall ab und Regen zu.

Laut einer ICIMOD-Studie sind die rund 56’000 Gletscher im Hindukusch-Himalaya zwischen 2011 und 2020 um 65% schneller geschmolzen als im vorherigen Jahrzehnt. Sie könnten bis zum Ende des Jahrhunderts bis zu 80% ihres Volumens verlieren.
Der Yala-Gletscher im Langtang-Tal gehört zu den am besten beobachteten Gletschern in Nepal.
Er unterliegt schon lange einem Monitoring des ICIMOD und ist der einzige Gletscher in der Himalaya-Region, der in der Global Glacier Casuality ListExterner Link aufgeführt ist, einer Art Weltatlas der vor kurzem verschwundenen oder ernsthaft bedrohten Gletscher.
Die Fläche des Yala-Gletschers ist zwischen 1974 und 2021 um mehr als ein Drittel geschrumpft, und der Gletscher könnte in den nächsten 20 bis 25 Jahren ganz verschwinden. «Jedes Mal, wenn ich den Gletscher besuche, fühle ich eine tiefe Traurigkeit über diesen massiven Rückgang», sagt Joshi.
>> Mehr zum Thema: Mit der weltweiten Gletscherschmelze wird das Monitoring der Schweiz immer wichtiger
Die Gefahr von überlaufenden Gletscherseen
Das Schmelzen der Gletscher in Nepal hat laut Joshi kaskadenartige Folgen, die sich sowohl lokal als auch global auf Siedlungen und Ökosysteme auswirken.
Der Rückzug der Gletscher führt zur Bildung von vorgelagerten Seen, so genannten ProglazialseenExterner Link. Dabei handelt es sich um Mulden, die von natürlichen Dämmen aus Eis oder Felsmaterial begrenzt werden.
Ein Erdrutsch oder ein Erdbeben kann zum plötzlichen Einbrechen dieser Dämme führen, was Gletscherseeausbrüche (Glacial Lake Outburst FloodsExterner Link, GLOF) mit verheerenden Auswirkungen auf Dörfer, Strassen, Brücken, Wasserkraftwerke und andere Infrastrukturen auslösen kann.
>> Sehen Sie sich die folgende Animation an, um zu erfahren, wie eine GLOF-Flutwelle entsteht:
Im Oktober 2023 hat ein Erdrutsch den Lhonak-See in der Himalaya-Region Indiens zum Überlaufen gebracht und eine bis zu zwanzig Meter hohe Flutwelle ausgelöst.
Die Flut richtete in einem 386 Kilometer langen Tal enorme Schäden an. Mindestens 55 Menschen verloren ihr Leben, 70 weitere wurden vermisst.
«Dieses Ereignis zeigt eindrücklich, wie anfällig Hochgebirgsregionen für die Auswirkungen des Klimawandels sind», sagt Christian Huggel, Professor für Umwelt und Klima an der Universität Zürich und Mitverfasser einer aktuellen Studie zur Lhonak-KatastropheExterner Link.
Nach Angaben des ICIMOD nimmt die Zahl der proglazialen Seen im Himalaya rapide zu. In Nepal gelten 21 Seen als flutwellengefährdet.
>> Die Grenzgebiete der Himalaya-Region sind einem zunehmenden Risiko von Flutwellen durch überlaufende Gletscherseen ausgesetzt. Von einer «tickenden Zeitbombe» ist die Rede. Die Schweiz will ihre Fachkenntnisse zur Installation eines Frühwarnsystems einbringen, wie Sie in diesem Artikel lesen können:

Mehr
Gletscherseen als tickende Zeitbomben im Himalaya
Weniger Wasser für zwei Milliarden Menschen
Die Folgen der Gletscherschmelze sind regional und global gleichermassen gravierend. Die Gletscher Nepals und des Himalayas speisen einige der wichtigsten Flussgebiete der Welt, darunter die des Ganges und des Gelben Flusses.
Sharad Joshi erläutert, dass der Rückzug der Gletscher die Wassermengen talabwärts verringere und saisonale Wasserknappheit zur Folge habe, welche die Landwirtschaft beeinträchtige und die Verfügbarkeit von Trinkwasser einschränke.
«Schwindende Wasserreserven stellen nicht nur eine Gefahr für die Landwirtschaft und die Wasserkraftproduktion dar, sondern verändern auch die lokalen Ökosysteme und gefährden an kalte Umgebungen angepasste Arten.»
Das Abschmelzen der Gletscher im Himalaya trägt ebenfalls zum Anstieg des MeeresspiegelsExterner Link bei. Dies hat Auswirkungen auf die Küstenstädte in der ganzen Welt.

Warnsysteme und Seeabflusskanäle
In Nepal wurden laut Joshi einige Fortschritte beim Schutz der Gletscher, bei der Anpassung an die veränderten Wasserressourcen und bei der Vorbeugung der damit verbundenen Risiken erzielt. «Allerdings gibt es erhebliche Herausforderungen in Bezug auf den Umfang der Massnahmen, die Finanzierung und die Technologie», ergänzt er.
In einigen gefährdeten Gebieten gibt es bereits Frühwarnsysteme. Sensoren und Sirenen warnen die flussabwärts gelegenen Gemeinden im Fall von GLOF-Überschwemmungen.
Im proglazialen See Imja Tsho in der Everest-Region kann ein künstlich angelegter Abflusskanal den Wasserspiegel senken und auf diese Weise das Überschwemmungsrisiko verringern.
Viele kritische Seen befinden sich jedoch in abgelegenen und unzugänglichen Gegenden. Die Kosten der Risikominderung seien für ein Land wie Nepal sehr hoch, sagt Joshi. Die Regierung schätzt die Investitionen, die bis 2050 für die Anpassung an den Klimawandel nötig sind, auf 47 Milliarden US-Dollar (41,4 Milliarden Schweizer Franken).
Sharad Joshi ist überzeugt, dass ein wirksamer Gletscherschutz und die Anpassung an den Klimawandel eine stärkere staatliche Politik, mehr finanzielle Mittel und eine bessere regionale Zusammenarbeit erfordern.
Und er fügt an: «Ich hoffe, dass das Internationale Jahr zum Schutz der Gletscher einen positiven Beitrag zu diesen Bemühungen leisten wird.»
Editiert von Gabe Bullard, Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob
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