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Bei Pro Helvetia bläst der Ostwind

Bereits in der Vergangenheit haben Schweizer Künstler ihre Spuren in Russland hinterlassen, wie hier im Kloster von Aleksandr Nevskij in St. Petersburg. akg-images

Die Schweiz will ihr Netz des kulturellen Austauschs im Ausland verbreitern. Die nächste Etappe heisst Russland, wo die Schweiz von ihrer zwanzigjährigen Erfahrung in einigen Ländern der ehemaligen Sowjetunion profitieren kann.

“In den letzten Jahren haben wir verschiedene Anfragen von Schweizer Kulturschaffenden erhalten, die Interesse zeigten, in Russland zu arbeiten. Wie schon vor einigen Jahren im Fall China, haben wir geantwortet: Wir sind bereit”, sagt Mario Annoni, Präsident der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia, gegenüber swissinfo.ch.

Schon seit einigen Jahren ist der Austausch mit dem Ausland der Grundpfeiler der Politik von Pro Helvetia. “Das charakterisiert uns”, sagt Direktor Pius Knüsel gegenüber swissinfo.ch. “Wir versuchen, dorthin zu gehen, wo es für die Kulturschaffenden schwieriger ist, sich Raum zu schaffen. Unsere Präsenz kann dies erleichtern.”

Nach Polen, Indien, Ägypten, Südafrika und China blickt Pro Helvetia jetzt nach Moskau, wo im Jahr 2015 in Zusammenarbeit mit dem Eidgenössischen Departement für auswärtige Angelegenheiten (EDA) ein neues Verbindungsbüro eröffnet werden soll.

“Russland ist auf kultureller und künstlerischer Ebene ein ausserordentlich interessantes Land”, sagt Oliver Cuendet gegenüber swissinfo.ch. “Die meisten russischen Musiker sind technisch aussergewöhnlich begabt und haben ihren Idealismus nicht verloren”, so der erste Gast-Direktor der Oper von Perm im Uralgebiet. “Sie sind wissbegierig und offen für alles Neue, besonders wenn sie ausserhalb der Hauptstadt leben.”

Cuendet kennt die russische Kulturszene aus der Nähe. Wie für viele andere Schweizer Kulturschaffende ist Russland zu seiner zweiten Heimat geworden, dies auch dank der zahlreichen Projekte, die zusammen mit Pro Helvetia entwickelt wurden. “Die Kulturschaffenden im Osten haben die Kulturinitiativen aus der Schweiz immer mit grossem Interesse begrüsst, und die Zusammenarbeit hat immer überraschende Resultate gebracht.”

Kultur als Instrument des Dialogs

Aufgrund ihrer grossen Erfahrung lässt sich Pro Helvetia durch bürokratische und politische Hindernisse eines Landes mit 142 Millionen Einwohnern wie Russland nicht einschüchtern.

“Als wir 2008 nach Peking gingen, haben wir dort auch ein unruhiges Land angetroffen”, sagt Pius Knüsel. “In Russland ist die Lage jedoch einfacher. Die Zivilgesellschaft ist besser organisiert, es gibt feste Strukturen und Private, die bereit sind, in die Kultur zu investieren. Es ist einfacher, in Russland zuverlässige Partner zu finden als in China, wo – neben der politischen Kontrolle – alles viel kommerzieller ist.”

Was die politische Stabilität Russlands betrifft, beruhigt das Schweizer Aussendepartement: “Ich denke nicht, dass diese Einfluss hat auf den Kulturaustausch zwischen der Schweiz und Russland”, sagt Jean-Philippe Jutzi, Chef des Zentrums für Kulturaussenpolitik im EDA, gegenüber swissinfo.ch.

“Die Zusammenarbeit zwischen Kunstschaffenden wird weitergehen, auch weil die Kultur als Instrument des Dialogs und der Kommunikation dazu beiträgt, Spannungen abzubauen und Konfliktursachen zu vermindern.”

Vorhang zu in Warschau…

Die Nachrüstung des kulturellen Austauschs mit Russland erfolgt indessen nicht ohne Konsequenzen. Ab 2014 schliesst Pro Helvetia ihr Büro in der polnischen Hauptstadt Warschau, das einzige, das in Osteuropa noch aktiv ist. Ein Entscheid, der teilweise durch Sparmassnahmen diktiert wurde, aber auch eine Folge der nun erreichten Stabilisierung des Austauschs ist zwischen Kulturschaffenden aus der Schweiz und aus den osteuropäischen Ländern.

“Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 gehörte die Schweiz zu den ersten westeuropäischen Ländern, die den politischen Wandel, die Kulturförderung und die wirtschaftliche Entwicklung der vier so genannten Visegrád-Länder Polen, Tschechien, Slowakei und Ungarn unterstützte”, sagt Ula Kropiwiec, Pro Helvetia-Verantwortliche in Warschau gegenüber swissinfo.ch.

“Während mehr als einem halben Jahrhundert mussten die Kulturschaffenden mit der Zensur leben. Eine Zensur, die sie gezwungen hat, sich immer gegenüber dem Regime zu positionieren: entweder dafür oder dagegen”, so Kropiwiec. “Und als das Regime zusammenbrach, fanden sie sich von einem Tag auf den anderen in Freiheit, aber ohne Strukturen und finanzielle Mittel zur Entwicklung ihrer Projekte.”

Pro Helvetia erhielt so den Auftrag, in diesen Ländern die Schaffung einer unabhängigen Kulturszene zu fördern, mit einem Sondermandat der Direktion für Entwicklung und Zusammenarbeit (Deza). In Budapest, Krakau, Prag und Bratislava wurden Verbindungsbüros eröffnet, und Pro Helvetia gelang es in kurzer Zeit, sich als “mutige und vertrauenswürdige Institution” zu profilieren.

…und Blick nach Übersee

Im Unterschied zu anderen Ländern hat Pro Helvetia hauptsächlich unabhängige Projekte unterstützt, die von kleinen Gruppen oder einzelnen Kulturschaffenden in Peripherieregionen entwickelt wurden.

Mit der Annäherung der vier Visegrád-Länder an die Europäische Union (EU) beschloss Pro Helvetia, die eigenen Kräfte einzig und allein auf den Kulturaustausch zwischen der Schweiz und diesen Ex-Satellitenstaaten der UdSSR zu konzentrieren und keine lokalen Kulturaktivitäten mehr zu finanzieren.

“Zu Beginn war das nicht einfach”, erklärt Kropiwiec. “2002 schlugen wir schweizerischen Kuratoren vor, Osteuropa zu besuchen. Wir fanden jedoch kaum jemanden, der daran interessiert war. Auf beiden Seiten gab es viel Gleichgültigkeit und eine Prise Ignoranz.”

Heute jedoch ist die Zusammenarbeit in allen Kunstsektoren intensiv: vom Theater zum Tanz, von der Musik zum Film, von der Literatur zur Fotografie. “In diesen Jahren ist es uns gelungen, Verbindungen zu schaffen, die über unsere Präsenz auf dem Territorium hinausgehen”, sagt Kropiwiec mit einem gewissen Pragmatismus. “Die Erfahrung war gut, jetzt ist der Moment gekommen, diese Ressourcen anderen Ländern zur Verfügung zu stellen.”

Wer weiss, ob der Blick von Pro Helvetia nicht nach Übersee gerichtet ist, wie Stiftungspräsident Mario Annoni suggeriert. “Wenn die Erfahrung in Russland konsolidiert ist, können wir uns auf Lateinamerika richten. Bereits haben sich Schweizer Kulturschaffende in diesem Sinn geäussert, und es ist nicht auszuschliessen, dass Pro Helvetia in zehn Jahren auf diesen Aufruf positiv antworten wird.”

Pro Helvetia ist eine 1939 gegründete öffentlich-rechtliche Stiftung und hat die Aufgabe, die kulturellen Aktivitäten von nationalem Interesse zu fördern. Sie schafft für Kulturschaffende und Intellektuelle möglichst optimale Bedingungen zur Realisierung und Verbreitung ihrer Werke und hilft ihnen, sich in der Schweiz und im Ausland bekannt zu machen.

Pro Helvetia wird vollumfänglich vom Bund finanziert. Für die Periode 2012-2015 verfügt die Schweizer Kulturstiftung jährlich über 34-36 Millionen Franken, wovon 25 Mio. an Projekte und Programme gehen, rund 40% in der Schweiz und 60% im Ausland.

Pro Helvetia erhält jährlich rund 3300 Finanzierungsgesuche und bewilligt etwa die Hälfte davon. Der Mindestbeitrag sind 1000 Franken (zum Beispiel für Reisespesen), der Höchstbeitrag kann bis zu 250’000 Franken für grosse Projekte betragen.

Im Ausland verfügt Pro Helvetia über Verbindungsbüros in Kairo, Warschau, Neu Delhi und Kapstadt. Sie unterhält das Kulturzentrum in Paris und finanziert teilweise das Istituto svizzero in Rom sowie das Swiss Institute in New York. Weiter hat Pro Helvetia der Swissnex San Francisco einen Leistungsauftrag zugewiesen.

Pro Helvetia beabsichtigt 2014 die Schliessung des Büros in Warschau und 2015 die Eröffnung einer neuen Aussenstelle in Russland. In Polen ist die Stiftung seit 1992 präsent und koordiniert von dort aus auch Projekte in Tschechien, Ungarn, der Slowakei, der Ukraine und in den baltischen Staaten.

Die Förderung der Kultur obliegt in der Schweiz in erster Linie den Gemeinden und Kantonen. Seit 2000 werden die Kompetenzen im Bereich Kultur in einem Verfassungsartikel festgehalten.

Während Gemeinden und Kantone regionale Kulturaktivitäten fördern, ist die Eidgenossenschaft für die nationale Förderung zuständig. Die Kultur ist somit auch integraler Bestendteil der Bundespolitik.

Unter den wichtigsten Akteuren finden sich das Bundesamt für Kultur (BAK) und die Stiftung Pro Helvetia.

Im Ausland werden Kulturaktivitäten oft auch von den diplomatischen Vertretungen organisiert, oder, bei kleinen Projekten, vom Zentrum für Kulturaussenpolitik im EDA.

Nach Jahren der Debatten im Parlament wurde am 1. Januar 2012 das neue Kulturförderungsgesetz in Kraft gesetzt. Dieses definiert die Kompetenzen der wichtigsten Akteure und garantiert diversen Institutionen die Finanzierung für weitere vier Jahre.

(Übertragung aus dem Italienischen: Jean-Michel Berthoud)

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