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Bibliotheks-Kataloge sind politisch

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Dieser Slogan bedeutet, dass Kataloge niemals neutral sind. Benjamin von Wyl

Die Kunstbibliothek Sitterwerk spürt seit 15 Jahren der Frage nach, wie die Bibliothek der Zukunft aufgebaut sein könnte. Ihre neue Ausstellung räumt mit der kolonialen Vergangenheit auf.

So wie man beim Kauen nicht immer dran denkt, wie das Essen in den Supermarkt gekommen ist, überlegt man sich beim Googeln nicht immer, was eigentlich alles passiert, nachdem man auf Suchen klickt.

Doch eigentlich wissen fast alle, dass hinter Google ein kommerzielles Grossunternehmen steht, das prägt, welche Suchresultate auf welche Begriffe erscheinen. Doch dass auch in Bibliotheken die Kategorien, die Bücherauswahl und die Suche nicht neutral sind, ist im Vergleich weniger Menschen bewusst.

Das Bewusstsein dafür stärken will eine Ausstellung der Kunstbibliothek SitterwerkExterner Link in St. Gallen. Bibliothekskataloge sind oft spröde und wenig intuitiv. Anders die Recherche im Sitterwerk: Im Katalog kann man auf Regale klicken; die Buchrücken erscheinen dann als Bild.

Wer abends fertig ist mit der Vorortarbeit, kann die Bücher irgendwohin stellen. Zwei Roboter auf Schienen scannen jede Nacht die neue Ordnung. Die Ordnung der Bibliothek ist dynamisch, die meisten Bücher in der Bibliothek haben keinen festen Platz, dank der scannenden Roboter findet man sie im Onlineregal. Die Bibliothek, die das Suchen so spielerisch gestaltet, befasst sich nun mit der Frage, wo die weissen Flecken in Bibliothekskatalogen liegen.

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Die bewusstseinsbildende Bibliothek des Sitterwerks. Benjamin von Wyl

“Im deutschsprachigen Raum hinkt die Auseinandersetzung Jahrzehnte hinterher”, sagt Lucie Kolb. Zusammen mit Barbara Biedermann und Eva Weinmayr hat Kolb die laufende Sitterwerk-Ausstellung kuratiert: “Reading the Library” spürt “feministischen und de-kolonialen Ansätzen der Wissensordnung” nach.

In den USA sei die Auseinandersetzung weiter, so gebe es bei Bibliothekseinführungen für Studierende immer wieder Diskussionen darüber, weshalb man im Katalog spezifisch nach “Schwarzen Künstlerinnen”, aber nicht nach “Weissen Künstlerinnen” suchen kann. Kolb sagt: “In vielen westlichen Bibliotheken glaubt man noch immer, dass es ein Set von Kategorien gibt, die überall anwendbar sind.”

“Katalogisieren ist ein Weltgestaltungs-Prozess”, setzt Emily Drabinski diesem Universalismus im ersten Videobeitrag der Sitterwerk-Ausstellung entgegen. Die Bibliothekarin und bekannte Aktivistin aus den USA findet: Wer die Schlagworte in einem Bibliothekskatalog setzt, hat die Macht.

Als Beispiel nennt Drabinski Geschlechtsidentitäten, die Kataloge einfach auslöschen, wenn sie nicht verschlagwortet sind, oder Katalogbegriffe in US-Bibliotheken wie “Illegal Alien”, die Menschen ohne Aufenthaltsbewilligung sprachlich ausschliessen.

Die Kunstbibliothek Sitterwerk ist seit 15 Jahren ein Ort, wo die Idee, was Bibliotheken sind und können, in der Praxis weiterentwickelt wird. Zur “Dynamischen Ordnung” dazu gekommen ist mittlerweile eine “Werkbank”Externer Link, welche die auf diesem interaktiven Tisch ausgelegten Bände sofort digitalisiert.

Im Digitalisat können dann einzelne Buchseiten gespeichert oder Kommentare angebracht werden. Hinterher kann man die eigene Bibliotheksrecherche als Magazin, als sogenanntes “Bibliozine”, ausdrucken. Für alle, die sich einarbeiten, ist das praktisch.

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Auf der Werkbank können die Recherchen der Besuchenden gescannt und ausgedruckt werden. Benjamin von Wyl

Ist es ein Schweissgerät oder eine Schleifmaschine? Durch die Bibliothekswände dringen Geräusche aus der Kunstgiesserei nebenan. Zu Feminismus und Dekolonisierung in Bibliothekskatalogen kam das Sitterwerk übers Handwerk: Der Ausstellung voraus ging ein Workshop, der sich mit der Frage befasste, wie der Bibliothekskatalog handwerklichen Prozessen gerecht werden kann, denn zur Bibliothek gehört auch ein Werkstoffarchiv.

“Im ersten Workshop suchten wir nach Möglichkeiten für ein Parallelvokabular, mit dem man im Katalog eher Prozessen statt Themen nachgehen kann”, erklärt Kolb den Weg zum Ausstellungsthema.

An einem zweiten Anlass, im Archiv-Magazin der Bibliothek wurde das koloniale Erbe vor Ort zum Thema. “Durch Rubriken wie ‘Afrika’ oder wenn Bücher problematische Titel tragen.” Das habe viele Fragen aufgebracht: Wie sind diese Bücher ins Sitterwerk gekommen? Warum sind sie da? Warum sind es genau die und nicht andere?

Wie man es von einem Ort, der für dynamische Ordnung steht, erwartet, wird die Ausstellung im Sitterwerk mit neuen “Sessions” laufend erweitert. Die Erkenntnisse bleiben dann auch online einsehbar: im “Teaching the Radical Catalogue. A Syllabus”.

Beteiligt sind Projekte und Aktivist:innen aus der Schweiz, den Vereinigten Staaten, Belgien, Österreich und den Niederlanden. Kolb hofft, dass die Impulse in der Kunstbibliothek Sitterwerk selbst “Spuren hinterlassen” und dass dadurch eine bessere Vernetzung von Initiativen möglich wird, die sich mit solchen Themen befassen.

Denn wenn sich die Bibliothekswelt nicht bewegt, ein Riese aus Kalifornien macht weiter. “Wieso überlassen wir nicht alles Google? Weil Google ein kommerzieller Anbieter ist, der Algorithmus ist bekanntlich nicht öffentlich”, sagt Kolb, “Die Suche ist also eine Blackbox, und das Nachdenken über Alternativen dazu wird mit der wachsenden Masse an Medien noch wichtiger.”

Es gehe darum, ein Bewusstsein dafür zu entwickeln, dass Bibliothekskataloge keine universelle Wahrheit abbilden. Und darum, dass sich diese Kategorien verändern und der Prozess dieser Veränderung aktiv gestaltet werden kann.

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