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Das Foto-Porträt heute – wie in den Anfängen

Wann wird sich William Ewing dem Spiel des "neuen Porträts" hingeben? swissinfo.ch

"Faire faces – Das neue fotografische Porträt" heisst der Titel des breitgefassten Buchs zur Porträt-Fotografie von Wiliam Ewing, dem Direktor des Lausanner Musée de l'Elysée.

Im Gespräch mit swissinfo bringt Ewing die 240 Fotos im Werk zur Sprache sowie den entscheidenden Zeitpunkt, in dem sich heute die Fotografie und damit auch das Musée de l’Elysée befinden.

260 Seiten, 240 Bilder, 113 Fotografien für ein in fünf Ländern auf drei Sprachen (aber nicht auf Deutsch) erschienenes Buch! Mit dieser Publikation möchte William Ewing das Comeback des Foto-Porträts wachrufen.

Die Ausstellung “Faire Faces” (Blick in die Augen) ist die Zusammenfassung von drei vom Musée de l’Elysée organisierten Expositionen in Lausanne, Lissabon und London – “plus von weiteren Elementen, auf die ich seither stiess”, so William Ewing.

Verwandelte, idealisierte, oder umgekehrt ins Traurig-Triviale verkehrte Gesichter. Transfigurierte Gesichter, Fotomontagen, digital manipulierte oder adaptierte Gesichter.

In seiner Einleitung unterteilt Ewing, Direktor des Musée de l’Elysée, die Entwicklung des Porträts in drei Phasen. Der Lehrbeauftragte für Fotografie-Geschichte an der Uni Genf unterscheidet zwischen Porträts, die auf körperliche Ähnlichkeit zielen, und jene, die unter freudianischem Einfluss das Gesicht als “Fenster der Seele” darstellen.

Als dritte Variante schliesslich kategorisiert er das Porträt der Gegenwart als eines, das am Beginn einer neuen Aera steht.

swissinfo: Sie behaupten, dass wir heute Zeiten wie zu den Anfängen der Fotografie wiedererleben?

William Ewing: Dazu trägt zweifellos die Kombination verschiedener Umstände bei. So haben sich mit dem Computer die Möglichkeiten zum Eingriff vervielfacht. In den Köpfen schwebt eine neue Konzeption, was ein Gesicht ist. Zum Beispiel, dass man durch gentechnischen Eingriff seinem Baby ein Gesicht aus dem Katalog verpassen kann.

Das führt dazu, dass Fotografen das Gesicht anders angehen. All diese neuen Methoden der Neuerfindung oder medizinischen Umkonstruktion von Gesichtern erklären auch die Beklommenheit besser, die im Buch zu spüren ist.

Das Buch thematisiert den Umstand, dass das künstlerische Aktionsfeld rund um das Gesicht, früher als rigid und fix erachtet, heute zu etwas Fluid-Veränderlichem geworden ist.

Die Technologie öffnet immer neue Pforten. Die Computer ermöglichen einen aussergewöhnlich geschmeidigen Umgang. Das heisst nicht, das dies besser ist – aber es ist anders. Und die neue Generation will diese neuen Möglichkeiten. Ihr Zugang zum Porträt gehört zu ihren Prioritäten.

swissinfo: Viele Fotografen lehnen die Augenblicklichkeit und Einmaligkeit der Foto ab. Sie multiplizieren die Bilder lieber in zeitlicher Abfolge oder mischen verschiedene Porträts übereinander.

W.E.: Während fast eineinhalb Jahrhunderten glaubte man, dass eine Foto die Seele fassen und die Wahrheit wiedergeben könne. Unsere Vorstellung des Menschlichen hat sich verändert.

Jedermann weiss ja, wie sehr ein Foto lügen kann. Ein Foto gleicht heute eher einer Variante oder einer Möglichkeit. Doch man wünscht sich davon noch eine dritte oder weitere.

swissinfo: Ihre Bildanalysen und zahlreichen Zitate tragen dazu bei, dass dem Text in Ihrem Buch ein grosses Gewicht zukommt.

W.E.: Das Buch sollte etwas Ungewöhnliches werden. Es mischt Text- und Bildelemente, setzt sie aber in neue Beziehungen zueinander. Auf jeder Doppelseite gibt es Bilder, einen Text in der Art einer Konversation mit dem Autor, und ein Zitat, das mit der Geschichte der Fotografie verbunden ist.

Die Zitate sind von Fotografen, Soziologen und Dichtern. Ein richtiges Spiel mit drei Elementen.

swissinfo: Auch 14 Schweizer Künstler werden in “Faire Faces” vorgestellt. Welche Namen treffen am ehesten den neuen künstlerischen Umgang mit dem Porträt?

W.E.: Daniele Buetti, Pierre Fantys. Aber auch die beiden Jungen, die am Beginn ihrer Karriere stehen, wie Mona Schweizer und Eva Lauterlein. Diese mixt die traditionell-analogen Bilder mit digitalen.

Sie macht bis 30 Porträts einer Person, überarbeitet sie und mixt alles im Computer. Das Resultat erscheint bizarr, human und unmenschlich zur selben Zeit.

Porträts sind ein faszinierendes Gebiet der Fotografie. Wirkt das Bild zu realistisch, zu alltäglich, ist es nicht interessant. Ist es pure Fiktion, glaubt man ihm nicht. Das Gebiet zwischen diesen beiden Extremen gefällt den meisten Fotografen.

swissinfo: Welche Position innerhalb der Fotografie steht dem Musée de l’Elysée zu?

W.E.: Als 2005 das 20-Jahres-Jubiläum des Musée gefeiert wurde, widmete man mit “reGeneration” den Fotografen der Zukunft eine Ausstellung. “reGeneration” ging nachher nach China und Boston. Demnächst reist die Ausstellung nach Russland, Florida und Kalifornien.

Meine Idee bestand darin, die jungen Fotografen innerhalb dieses Projekts zu begleiten, um das Weltbild des Museums auszuweiten.

Mit der Digitalisierung erleben wir einen faszinierenden Augenblick in der Fotografie. “reGeneration” soll dazu beitragen, diesen Augenblick besser zu begreifen. Die nächste Etappe kommt im nächsten Februar, mit der Ausstellung “Wir sind alle Fotografen”.

Sie wird spielerische, aber auch seriöse Elemente umfassen. Denn Digitalisierung und mit dem Handy geschossene Fotos mischen die Karten neu auf.

Solche Ausstellungen dienen uns dazu, die Zukunft aufzuschlüsseln und die Probleme, die mit unserer Kollektion verknüpft sind, aufzudecken. So lassen sich heute auf einer kleinen portablen Festplatte 20’000 Bilder speichern.

Damit kann an sich jedermann fast die gesamte Geschichte der Fotografie auf sich tragen. Jeder kann zum Museum werden.

Diesen Umstand muss ein Museum berücksichtigen, ebenso wie die Möglichkeiten der Distribution seiner Fotos. Heute verfügen wir über die Mittel, eine Ausstellung gleichzeitig in 100 Städten der Welt zu organisieren.

Das mag für Sie eine erstaunliche Antwort sein. Ich bin aber überzeugt, dass es die grossen Events wie “reGeneration” sind, auf deren Schiene sich das Museum in die Zukunft bewegt.

swissinfo-Interview: Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Alexander Künzle)

“Faire Faces – Le nouveau portrait photographique” von William A. Ewing, in Zusammenarbeit mit Nathalie Herschdorfer, 260 Seiten, 240 Fotos, ist in fünf Ausgaben erhältlich:

Französisch: Musée de l’Elysée, Lausanne, und Actes Sud, Arles.

Italienisch: “Faccia a Faccia – Il nuovo ritratto fotografico”, Contrasto, Rom.

Englisch: “Face – The New Photographic Portrait”, Thames & Hudson, London und New York.

Das Werk enthält Bilder von grossen internationalen Fotografen (Valérie Belin, Philip-Lorca di Corcia, Lee Friedlander, Barbara Kruger, Orlan, Martin Parr. Martin Parr, Cindy Sherman) und von 14 Schweizer Fotografen.

Der Kanadier William Ewing ist seit 1995 Direktor des Musée de l’Elysée in Lausanne. Gleichzeitig hat er einen Lehrauftrag an der Kunsthistorischen Fakultät der Universität Genf für Geschichte der Fotografie.

Vorher eröffnete der Anthropologe die Fotogalerie Optica, dann gründete er das Zentrum für zeitgenössische Kunst in Montréal. Er leitete auch Ausstellungen im Internationalen Zentrum für Fotografie in New York und war unabhängiger Kurator in London.

Ewing hat mehrere Publikationen verfasst, darunter “Le Siècle du corps: 100 photographies 1900-2000” und “reGeneration: 50 photographes de demain”.

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