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Das Leben ist eine Achterbahn

Liebe, Trauer, Humor: Von Horvaths "Kasimir und Karoline". Keystone

Das Schauspielhaus Zürich zeigt Christoph Marthalers Inszenierung "Kasimir und Karoline" von Ödön von Horváth.

Das Stück um den arbeitslosen Lastwagenfahrer Kasimir und die Angestellte Karoline hat nichts von seiner Aktualität eingebüsst.

“Man hat halt oft so eine Sehnsucht in sich – aber dann kehrt man zurück mit gebrochenen Flügeln und das Leben geht weiter, als wär man nie dabei gewesen”. (Karoline)

Ja, die Sehnsucht. Wenn sich der Theaterabend dem Ende zuneigt und das Fräulein Karoline im Hofbräuhaus zu München diese Sätze ins Publikum spricht, geht das Leben weiter.

Doch die Zuschauenden sind dabei gewesen, haben teilgenommen, mitgelitten und ausgeharrt, haben Partei genommen, zu- und weggeschaut. Sie haben sich der Musik hingegeben, sich im Laufe des langen Abends – die Vorstellung dauert rund dreieinhalb Stunden – vom Marthalschen Rhythmus tragen lassen.

Sie sind eingetaucht in die frühen dreissiger Jahre, haben den stinkenden Atem des nahenden National-Sozialismus gespürt und viele Parallelen zu heute gefunden. Und vergassen dabei, dass noch vor kurzer Zeit das ganze Experiment mit Christoph Marthaler und seinem Leitungsteam auf Messers Schneide stand. Denn nun geht es endlich wieder um das, was wichtig ist, ums Theater, und das ist gut so.

Theater ums Theater



Doch blenden wir zurück: Im Jahre 2000 erhält die Pfauenbühne in Zürich mit Christoph Marthaler einen neuen Direktor. Marthaler kommt nicht alleine, bringt Stephanie Carp und Anna Viebrock und ein hochkarätiges Ensemble mit.

Marthaler, der Star der deutschen Bühnen, gilt als Hoffnungsträger und soll Zürichs lahmende Bühne wieder flott machen. Sprich mehr Resonanz, mehr Image, mehr Publikum.

Mit der Schiffsbau-Halle im trendigen Kreis 5 erhält Zürich zusätzlich zur Pfauenbühne weiteren Theater-Raum. Alles ist gut. Aber nicht lange.

Premieren werden verschoben, die Kommunikation funktioniert nicht wie sie sollte, Abonnemente werden abbestellt, das neue Theater gefällt nicht allen. Gehässigkeiten. Die rechte Politik, allen voran die Schweizerische Volkspartei (SVP), wacht mit Argusaugen über die subventionierte Theaterkultur.

Sein oder Nichtsein

Und bei Kostenüberschreitungen und weniger Einnahmen hört der Spass sowieso auf. Und die mehren sich. Doch wer ist Schuld, wer hätte da besser aufpassen müssen, kontrollieren, überprüfen?

Als Christoph Schlingensief, Aktionskünstler mit grossem Unruhepotential, die Zürcher SVP verhöhnt, “Hamlet” mit ausstiegswilligen Neonazis inszeniert, wird für Marthaler “Sein oder Nichtsein” die Frage.

Den vorläufigen Höhepunkt erreicht diese exemplarische Zürcher Theatergeschichte im Herbst 2002 mit der vorzeitigen Kündigung von Christoph Marthaler. Zwar wurden die Subventionen erhöht – das Zürcher Stimmvolk sprach dem Schauspielhaus sein Vertrauen aus – doch die Chemie zwischen dem Verwaltungsrat und dem Duo Marthaler/Carp war mehr als explosiv.

Happy End?

Der Rest ist nicht Schweigen, sondern Geschichte. Protest formiert sich, drinnen und draussen. Prominente für und gegen Marthaler nehmen Stellung, die Presse schreibt sich die Finger wund. Schliesslich wird die Kündigung zurückgezogen, das Ensemble spart, die Besucher-Zahlen ziehen wieder an. Das Leben ist eine Achterbahn, das gilt nicht nur im, sondern auch für das Theater.

Per 31.12.2002 zeigt die Pfauenbühne eine Auslastung von 61,5%, die Schiffsbauhalle 83,5%, die Box 82,4%. Das Luzerner Theater hatte im Vergleich dazu in der letzten Spielzeit magere 48%. Das Theater ums Theater hat dem Theater gut getan. Das Theater hat wieder mehr Publikum. Auch in Luzern. Vorläufiges Happy End.

Kasimir und Karoline

Zurück in die Schiffsbau-Halle, zurück zu Kasimir (Josef Bierbichler) und Karoline (Olivia Grigolli). Die Wirtschaftskrise der 20er Jahre ist überall.

Auch auf dem Oktoberfest, diesem bierseligen Treffen der Verlierer und Verdränger, der Proletarier und Herrschenden, der Frauen und Männer. Noch fliegt der Zeppelin, Symbol für Fortschritt und Aufbruch.

Karoline schleckt Eis, will Achterbahn fahren, im Hippodrom hoch zu Pferd ihre Runden drehen, sie will sich “nach oben orientieren”. Eugen Schürzinger (André Jung), der noch in Lohn und Brot steht, bietet sich an.

Derweil Kasimir feststellt, dass jeder intelligente Mensch ein Pessimist ist, und er als frisch “Abgebauter” (Arbeitsloser) keine Lust hat, sich zu amüsieren. Das Drama nimmt seinen Lauf.

Christoph Marthaler hat texttreu inszeniert. In Anna Viebrocks wunderbarer Bühne lässt er ein Panoptikum an Verlierern aufleben, das unter die Haut geht. Sein Theater der Langsamkeit kommt hier voll zum Tragen. Viel Raum, viel Zeit, viel Luft schwingt zwischen den Sätzen. Der Text hallt lange nach. Dazwischen die kleinen, feinen, zuweilen skurrilen Einfälle.

So das Gebläse unter dem Luftschacht. Das den Frauen die Röcke hebt, Einblick ins Darunter, ins Organische gibt, Wind ins menschliche Gefüge bringt. Sand im Getriebe hats schliesslich genug. Das Panorama, ein runder Holzbau mit vielen Fensterpaaren, bietet einen Blick ins Unerreichbare, in die Ferne, in jene Zukunft, die bald da sein wird.

Ein Prosit der Gemütlichkeit



Mit zunehmendem Abend und zunehmendem Alkoholkonsum fallen die Schranken, treten die Aggressionen eruptiv zutage. Brutal wird die Schamgrenze angeritzt, es gibt kein Entkommen. Der scheinheiligen Doppelmoral setzt das Hochprozentige ganz schön zu. Bier her.

Einzig das Lachen verhilft zu kleinen Entspannungen. Die Szene, in der André Jung alias Schürzinger, ein überzeugter Antialkoholiker, zum Kirsch trinken gezwungen wird, ist Schauspielkunst vom Besten. Überhaupt das Schauspiel. Was die Schauspielerinnen und Schauspieler an diesem langen Abend zeigen, ist eine Spitzenleistung. Präzise sitzen Gesten, Text, Haltung.

Bleibt am Schluss die Liebe. Hat doch Horváth seinem Bilderbogen “die Liebe höret nimmer auf” als Motto vorangestellt. Kasimir und Karoline verlieren ihre Liebe füreinander, die Sehnsucht bleibt. Und im Raum steht die alte Frage. Ist der Mensch an sich schlecht, oder sind es die äusseren Umstände, die im Menschen das Böse hervorbringen?

Es bleibt um nochmals mit Horváth zu sprechen: “… eine Ballade voll stiller Trauer, gemildert durch Humor, das heisst durch die alltägliche Erkenntnis: Sterben müssen wir alle!”

swissinfo, Brigitta Javurek

Ödon von Horvath
Geboren: 9.12.1901 in Susak bei Fiume (heute Rijeka, Kroatien)
Ab 1923: Schriftsteller in Berlin und Murnau
1931: Erste Erfolge mit “Italienische Nacht”, Kleist-Preis.
1933: Von Horvaths Stücke kommen unter den Nazis auf den Index, der Autor verlässt Deutschland via Schweiz Richtung Paris, wo er am 1. Juni stirbt.

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