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Der “Wilhelm Tell” von New York in Berlin

Der Musiker und Komponist Daniel Schnyder. Paola Carega

Die Musik des Saxophonisten und Komponisten Daniel Schnyder passt in keine Schublade. Denn der in New York lebende Schweizer bewegt sich quer zu allen Musikgenres. Wie sich das anhört, davon kann man sich in Berlin derzeit überzeugen.

Komponisten leben zurückgezogen. Sie verbringen ihre Tage im stillen Kämmerlein, brüten vor dem Notenpapier und warten auf die irdische oder gar göttliche Eingebung. Über diese Beschreibung kann Daniel Schnyder nur lachen. “In vielen Köpfen sitzt dieses romantische Bild meines Berufs leider noch drin, obwohl es mit der Wirklichkeit im 21. Jahrhundert nichts zu tun hat”, sagt der Saxophonist und Komponist Schnyder in breitem Züritüütsch.

Die Arbeit eines Komponisten werde heutzutage von tausend Dingen beeinflusst und geprägt. “Unsere Mobilität und die Globalisierung bringen das mit sich.”

Schnyder, ein hagerer Schlaks mit kurzen grauen Haaren, ist selbst ein gutes Beispiel für einen musikalischen Kosmopoliten. So lebt der 48-jährige gebürtige Schweizer mit seiner Familie seit vielen Jahren in New York und bewegt sich musikalisch auf nahezu allen Kontinenten.

Schnyder ist ein Alchemist der Musikstile. Er mischt Klassik, Jazz und Folklore und arbeitet gern mit Musikern aus Westafrika und Lateinamerika zusammen. Sein Oeuvre umfasst Symphonien, Instrumentalkonzerte, Opern und Kammermusikwerke sowie zahlreiche CD-Produktionen.

Blick auf Central Park

Gerade geht für Schnyder eine erfolgreiche Saison zu Ende. Der Musiker war 2008/2009 “Artist in Residence” beim Rundfunk-Sinfonieorchester Berlin (RSB). In der Zeit sind drei Auftragswerke entstanden, die in diesen Tagen in Berlin zur Uraufführung gelangen.

Alle drei – ein Kammerkonzert sowie je ein Werk für mittlere und grosse Orchesterbesetzung – sind eingebettet in einen thematischen Abend. Eines der Konzertprogramme befasst sich mit Schnyders Auswanderung.

Unter dem Titel “Ein Schweizer in New York – Wilhelm Tell and the Big Apple” begibt sich das RSB auf eine musikalische Reise, die von der Schweiz nach New York führt. Gespielt werden neben zwei Eigenkompositionen Rossinis Ouvertüre zur Oper “Wilhelm-Tell” und das Stück “Central Park in the Dark” des 1954 verstorbenen US-Amerikaners Charles Ives.

“Dieses Oeuvre habe ich gewählt, weil wir viele Jahre mit Blick auf den Central Park gewohnt haben, was ganz toll war”, sagt der schweizerisch-amerikanische Doppelbürger.

Afrikanische Knacknuss

Schnyders Musik wird gern als Kopfmusik für den Körper bezeichnet: intellektuelle Musik, deren Rhythmus in die Beine fährt. “Meine Musik soll Seele, Geist und Körper gleichermassen anregen”, sagt Schnyder. Erst mit dieser Balance seien alle Aspekte des Menschseins miteinander verbunden.

Dieser Anspruch wird auch beim grössten seiner neuen Werke deutlich. Es heisst “African Tales” und befasst sich mit dem afrikanischen Heldenepos über den mächtigen König Sundiata Keita aus dem 13. Jahrhundert. Die Geschichte des Löwenkönigs wird seit vielen Generationen von den Griot-Familien, den traditionellen Sänger-Clans aus Mali, mündlich überliefert.

Mehrmals hat Schnyder den westafrikanischen Staat besucht und für die Aufführung in Berlin malische Sänger gewinnen können. Die Zusammenarbeit über zwei Kontinente – so bereichernd sie für den Schweizer war – stellte Schnyder auch vor kleinere und grössere Probleme. So verbrachte er unzählige Stunden auf Ämtern, um für die Musiker Visa und Krankenversicherungen zu bekommen.

Auch die unterschiedliche Herangehensweise von Europäern und Afrikanern an Musik musste Schnyder berücksichtigen. “Damit ein europäisches Orchester den Heldenepos überhaupt spielen kann, musste ich es erst einmal aufschreiben”, erklärt er. “Das war eine ziemliche Knacknuss.”

Für die Sänger aus Mali, die keine Takte kennen und mit der Notenschrift wenig anfangen können, musste er wiederum ganz anders vorgehen. Schnyder hat das Epos, gespielt nach seiner Interpretation, auf CD aufgenommen und den Maliern geschickt, so dass diese über das Gehör proben können.

Austausch als Lebensprinzip

Am 6. Mai konnte sich das Berliner Publikum von Schnyders jüngstem Geniestreich überzeugen. Und dieser freute sich auf den “künstlich generierten Kulturclash”. Noch nie habe sich ein europäisches Orchester auf diese Weise an ein traditionelles afrikanisches Oeuvre gewagt.

Schnyder ist überzeugt, dass der europäische Orchesterapparat langfristig nur überleben kann, wenn er in einen Austausch mit der ganzen Musik des 20. und 21. Jahrhunderts tritt.

“Puristen stellen sich bei solchen Gedanken die Haare auf”, räumt er ein. Doch mit Schubladen in der Musik konnte Schnyder schon immer wenig anfangen – sie langweilen ihn schlicht.

“Spannend wird es doch erst da, wo neue Verbindungen entstehen. Nur so kann sich etwas Neues entwickeln. Das ist doch ein Lebensprinzip.”

Paola Carega, swissinfo.ch

Am 6. Mai wurde “African Tales” von Daniel Schnyder in der Philharmonie Berlin uraufgeführt.

Das oratorische Werk für drei afrikanische Solisten, Orchester und Frauenchor stand unter der Leitung von Kristjan Järvi.

Dem Hauptwerk des Abends wurden sinfonische Arrangements von Jimi Hendrix-, Duke Ellington- und John Coltrane-Kompositionen vorangestellt.

Schnyder selbst war am Saxophon zu hören, begleitet vom Rundfunk-Symphonieorchester Berlin (RSB).

Das RSB ist das älteste deutsche rundfunkeigene Sinfonieorchester und verfügt mittlerweile über ein Repertoire von der Vorklassik bis hin zur Moderne.

Künstlerischer Leiter ist Marek Janowski, der 2005 zusätzlich die Musikdirektion des Orchestre de la Suisse Romande in Genf übernahm.

Mit Janowski hat das RSB ein Niveau erreicht, das es für Dirigenten der Spitzenklasse attraktiv macht und in jeder Saison zu zahlreichen Gastspielen im In- und Ausland führt.

Die Festspielsaison 2009/2010 umfasst Einladungen zum Musikfest Colmar, zum Prager Frühling, zum Quincena, Musical de San Sebastián und zu den Stuttgarter Bachwochen.

Zudem wird das RSB Konzerte geben in mehreren Städten Spaniens, im Konzerthaus Wien und in Graz.

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