Die Architektur von Miroslav Šik muss nicht schreien

Der schweizerisch-tschechische Architekt Miroslav Šik erhält den Meret-Oppenheim-Preis 2025. Im Unterschied zu den kühnen, aufmerksamkeitsheischenden Gebäuden, die den globalen Diskurs beherrschen, zeigt seine Architektur eine sensible Ruhe.
Die Schweiz mag die Heimat einiger der berühmtesten Architekt:innen der Welt sein, die für ihre hochkarätigen Werke global bekannt sind. Doch innerhalb des Landes werden die architektonischen Standards durch einen subtileren, ruhigeren Ansatz definiert. Šiks Werk und Lehrtätigkeit bieten wertvolle Einblicke in diese Perspektive.
Der 72-jährige Šik ist tief in dieser Schweizer Architekturmentalität verwurzelt. Er teilt diese Sensibilität mit früheren Preisträgern des Meret Oppenheim Preises – einem der renommiertesten Schweizer Kunstpreise – wie Peter Zumthor und Gion A. Caminada, die ein kontextbezogenes und einbettendes Design dem Spektakulärem vorziehen.
Nur einen kurzen Spaziergang vom Hauptbahnhof Zürich entfernt, zwischen zwei kontrastreichen Gesichtern der Stadt – dem umstrittenen Gewerbekomplex Europaallee und dem Kasernenareal, einem politisch aufgeladenen Kulturzentrum – liegt Šiks Architekturbüro.
Hier treffen wir uns zu einem Interview, angestossen durch die im Januar angekündigte Verleihung des Meret-Oppenheim-Preises an ihn Mitte Juni.
Während wir uns in einem Konferenzraum niederlassen, umgeben von Spuren der laufenden Arbeiten (Architekturzeichnungen, Materialproben, Papierstapel und Fragmente von massstabgetreuen Modellen), frage ich Šik, wie es sich anfühlt, eine solche Auszeichnung zu erhalten.
Er antwortet scherzhaft: «Sobald Du 70 wirst, geben sie dir Preise.» In ernsterem Ton fügt er hinzu: «Anerkennung ist wichtig. Architektur ist eine langsame Kunst. Ein Projekt kann fünf, sogar zehn Jahre dauern. Es ist schön, eine Resonanz zu erhalten.»

Kontext versus Symbol
Šik wurde in der ehemaligen Tschechoslowakei geboren und kam 1968 als politischer Flüchtling in die Schweiz. Er studierte an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), wo er später bis zu seiner Pensionierung 2018 lehrte.
In den 1980er-Jahren wurde er durch seine Kritik an den damals vorherrschenden modernistischen und postmodernen Strömungen bekannt.
Inspiriert von seinem Professor, dem italienischen Architekten Aldo RossiExterner Link, entwickelte Šik das Konzept der «analogen Architektur»: Entwürfe, die sich auf die gebaute Umgebung beziehen. «Ich arbeite in Analogie zu dem, was bereits existiert», sagt er.
Um Šiks Ansatz zu verstehen, ist es wichtig, zwischen ikonischer und kontextueller Architektur zu unterscheiden.
IkonischeArchitektur bezeichnet Gebäude, die ein Statement setzen, sich aber von ihrem unmittelbaren Kontext lösen. «Sie schaffen Schönheit und Aufregung, ja, aber das ist nicht mein Stil. Es ist eine globale Architektur, die überall stehen könnte, wie das Guggenheim in Bilbao oder die Elbphilharmonie in Hamburg», sagt er.


Im Gegensatz dazu bleibt Šik dem Kontextuellen verpflichtet. Analoge Architektur und die daraus resultierenden Konzepte bilden den Rahmen, um den Kontext in jeden Schritt des architektonischen und städtebaulichen Prozesses einzubeziehen.
Sein Konzept des Alt-Neu kam mit seinen ersten gebauten Projekten wie La Longeraie in MorgesExterner Link (Westschweiz), der Pfarrei St. Antonius in EggExterner Link (Kanton Zürich) oder dem Musikantenhaus in ZürichExterner Link zum Vorschein.
Sie verbinden bestehende mit neuen Strukturen und verwenden sowohl banale als auch historische Referenzen. «Der Kontext verändert sich ständig. Deshalb kann die kontextuelle Schönheit kein fester Stil sein», sagt er. «Jedes Projekt ist anders.»

2012 kuratierte Šik den Schweizer Pavillon auf der Biennale von Venedig mit dem Thema «And Now the Ensemble!».
«Ensemble bedeutet in diesem Zusammenhang, dass man sich in das Vorhandene einfügen muss: in die Geometrie der Fassade, die Skyline, die Silhouette bestehender Baukörper», sagt er.
«Man muss Dinge nicht auf die gleiche Weise wiederholen. Das ist keine Harmonie. Man muss nicht leise sein, aber man sollte auch nicht schreien.»

Kleine Grossstadt
Unser Gespräch wendet sich dem aktuellen Zustand europäischer Städte zu, dem Gebiet von Šiks Arbeiten und Gedanken. Seit seiner Emeritierung von der ETH Zürich lehrt er an der Akademie der Schönen Künste in Prag und teilt seine Zeit zwischen seinem Zürcher Büro und seinem neuen akademischen Standort in der tschechischen Hauptstadt auf.
«Alle reden von Agglomerationen, aber in der Schweiz gibt es sie nicht», sagt er. «Wir können höchstens von Vorstädten sprechen. Im Gegensatz zu ausufernden Metropolen wie Los Angeles –wo ich einmal anderthalb Stunden durch eine endlose Häuserschlange gefahren bin – bleibt die Schweizer Urbanisierung verdichtet.»
Er nennt Schweizer Städte «kleine Grossstädte», die er als urbane Gebiete definiert, die aus einem historischen Kern mit klaren Grenzen und enger Verbindung zur Natur wachsen. «Grenzen sollten sich aus der Lebensweise der Menschen ergeben, nicht aus technokratischer Planung», betont er.
Šik sieht drei Bedrohungen für dieses Modell. Die erste ist die «Big City», geprägt vom globalisierten Urbanismus, der sich ungehindert ausbreitet.


Am anderen Ende des Extrem liegt das, was Šik die «korrekte Stadt» nennt, eine Form urbaner Lähmung, die durch übertriebene Bewahrung verursacht wird. Strenge Denkmalschutzgesetze lassen ganze Stadtviertel in der Zeit erstarren. «Korrekte Städte sind wie Museen», sagt er.
Die dritte Bedrohung ist seiner Meinung nach die «Fun City», die vom Tourismus und der globalen Mobilität angetrieben wird und Besuchende und mobile Fachkräfte anziehen soll.
«Diese Fachleute sind 20 bis 39 Jahre alt, schön, sportlich, umweltbewusst. Sie reisen nach Wien, Prag, Venedig, Zürich», sagt der Architekt. Diese Orte werden flüchtig und sind eher vom Konsum als von der Gemeinschaft geprägt.
«Man sieht Städte wie Venedig, Prag und Krakau, die von Touristinnen und Touristen überlaufenExterner Link sind. Diese können überall leben, aber sie bauen keine dauerhaften Bindungen auf. Sie kommen und gehen, und die Stadt wird zu einem Produkt.»
Šik denkt über die Veränderung Zürichs im Lauf der Jahre nach: «Zürich war einmal eine proletarische Stadt. Als ich 1968 ankam, war es eine Stadt, die Stahl produzierte. Es war schmutzig, laut, mit Kommunisten und Arbeitern.»
Die Stadt hat sich seitdem weiterentwickelt. «Heute kann es sich die Durchschnittschweizerin, der Durchschnittschweizer, nicht mehr leisten, in der Stadt zu wohnen, es sei denn, es ist in einer Wohngenossenschaft.»
Zwischen Zürich und Prag
Die Lehrtätigkeit war für Šik zunächst ein pragmatischer Entscheid, um seine Familie zu ernähren. «Als Architekt ist es ein ständiges Auf und Ab – Geld, kein Geld. Als ich das erste Mal meinen Lohn von der ETH Zürich bekam, dachte ich, es sei ein Fehler. Ich habe sogar die Lohnbuchhaltung angerufen – die dachten, ich mache Witze.»
Was ihn über drei Jahrzehnte lang dort hielt, war jedoch nicht nur die finanzielle Stabilität: «Die ETH liess mich jedes Jahr 100 Studierende unterrichten, multipliziert mit 30 Jahren. Sie behielten mich bis zu meiner Pensionierung.» Die Studierenden haben es lohnenswert gemacht.
«Sie sind gut», sagt er schlicht. «Sie sind bestens gerüstet, sie haben das Handwerk. Wenn sie etwas nicht wissen, lernen sie es in einem Semester. Sie bauen ihr Wissen Stein für Stein auf.»
Er hat auch beobachtet, wie sich sein Bereich entwickelt hat. «Als ich anfing, gab es keine Frauen. Am Ende waren 52 Prozent der Studierenden Frauen.»
Seine schärfste Kritik richtet sich jedoch gegen das Campus-Modell der ETH Zürich und generell gegen den Trend, die Universitäten an den Stadtrand zu verlegen und die Studierenden nach Disziplinen zu bündeln.
«Die Idee des Campus ist eine Katastrophe. Keine Philosophie, keine Literatur, keine Psychologie. Man sollte keine Architekturschule ausserhalb einer Stadt haben», sagt er mit Blick auf das am Stadtrand angesiedelte Architekturdepartement.

Die Akademie der Bildenden Künste in Prag hingegen ist in das Stadtgefüge eingebettet. Doch seine Freude am Unterrichten in Prag liegt nicht nur in der Geografie, sondern auch in der Pädagogik begründet.
«Ich experimentiere dort mit Kunst und Architektur», sagt er. Das heisst, Architektur durch die Linse der Kunst zu lehren, was seiner Meinung nach an der ETH Zürich undenkbar gewesen wäre.
Geduld und Routine

Was seine architektonische Praxis betrifft, so bleibt diese tief im Kontext verwurzelt. Sein kürzlich fertiggestelltes Projekt im kleinen Aargauer Dorf MerenschwandExterner Link schafft ein neues Dorfzentrum.
Es zeichnet sich durch nicht-geometrische Volumen und eine vereinigende Dachlinie aus, die das Ensemble in die Dorfsilhouette einbettet.
Die weissen Fassaden, eine Anspielung auf die mediterrane Architektur, deuten auf einen Wandel in der Schweizer Ästhetik hin. «Tradition wird grau und alt, wenn man sie nicht verfremdet», sagt er.
Sein Ziel ist es, einen Hauch von Andersartigkeit einzubringen – eine poetische Disruption, die Vertrautes neu erscheinen lässt und relevant erhält.
Heute lebt Šik in einem anderen Rhythmus. «Alles verändert sich», sagt er. Sogar sein Geschmack hat sich weiterentwickelt: Gemüse, das er früher mied, geniesst er heute. In diesen Tagen, sagt er, sei seine Kraft der Ausdauer gewichen und seine Gewissheit einer ruhigen Disziplin.
Was sich jedoch nicht geändert hat, ist die Denkweise, die ihm die Architektur eingeflösst hat: so lange an einem Prozess dranzubleiben, bis jedes Teil seinen Platz gefunden hat. «Architektur ist ein langfristiger Prozess», sagt er. «Geduld ist die einzige Routine, die mir geblieben ist.»

Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob/gw, Übertragung aus dem Englischen: Petra Krimphove

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