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“Die Biennale ist wie eine Windmaschine”

Bice Curiger, Kuratorin der 54. "Biennale d'Arte" in Venedig. Keystone

In Venedig ist fast alles bereit. Am 4. Juni öffnet eines der wichtigsten Treffen der zeitgenössischen Kunst seine Pforten fürs Publikum. Dieses Jahr wird die Messe von der Schweizerin Bice Curiger kuratiert.

In wenigen Tagen ist es soweit, und die 54. Ausgabe der Biennale von Venedig ist eröffnet. Die Lagunenstadt wird für einige Monate zum Zentrum der zeitgenössischen Kunst.

Die internationale Kunstmesse mit dem Titel “ILLUMInations” ist eine einmalige Gelegenheit, der modernen Kunst den Puls zu nehmen, sei es für Künstler, Galeristinnen, Sammler oder das grosse Publikum.

“Die Biennale ist wie eine Windmaschine”, sagt Direktor Paolo Baratta auf der Website der Veranstaltung.

“Alle zwei Jahre schüttelt diese Maschine den Wald durch, holt versteckte Wahrheiten hervor, bringt neuen Trieben Kraft und Licht, stellt die bekannten Äste und alten Stämme in eine andere Perspektive.”

Im Padiglione Centrale, in den Giardini und im Arsenale werden 84 Künstlerinnen und Künstler vorgestellt. Und mit 89 Ländern präsentieren sich dieses Jahr so viele wie noch nie, einige davon zum ersten Mal.

Vergangenheit nicht vergessen

Dieses Jahr will Kuratorin Bice Curiger in der internationalen Ausstellung auch der Kunst der Vergangenheit Platz widmen. So beginnt der Rundgang durch die Ausstellung mit drei grossen Gemälden von Jacopo Robusti, genannt Tintoretto: Das Abendmahl (von der Insel San Giorgio), Der Diebstahl des Körpers des heiligen Markus und Die Erschaffung der Tiere (beide aus den Gallerie dell’Accademia).

Als sie an Venedig gedacht habe, sei für sie sofort klar gewesen, dass der einzigartige künstlerische und historische Kontext mehr biete als eine reine Ausstellungsfläche, sagte Curiger im Schweizer Fernsehen SF.

“Für ‘ILLUMInations’ ist mir sofort der herrliche venezianische Maler Tintoretto aus dem sechzehnten Jahrhundert in den Sinn gekommen. Ich sagte mir: Wir müssen einen Saal mit Tintoretto machen.”

Und sie ergänzte: “Das sechzehnte Jahrhundert war jener historische Moment, in dem die Welt wirklich gross geworden ist. In einem gewissen Sinn war es die Geburtsstunde der Globalisierung. Tintoretto ist der Maler des Lichts. Seine Werke offenbaren ekstatische Momente des Lichts.”

Eines der Hauptthemen der Veranstaltung ist in der Tat die Globalisierung, auch und besonders in der Welt der zeitgenössischen Kunst. Zudem sei Tintoretto ein hoch innovativer Künstler gewesen, “mit einem waghalsigen Zugang zur Komposition, der die klassische Ordnung der Renaissance umgedreht hat”, sagte Curiger.

Indem sie die Gemälde Tintorettos gleich beim Eingang der Ausstellung zur modernen Kunst inszeniert hat, will die Kuratorin ein Zeichen für Kontinuität und Respekt vor der Vergangenheit in der Kunst setzen. Ausserdem hofft Curiger, dass dieser wichtige Meister die Idee der Umkehrung einer Ordnung auch auf zeitgenössische Künstler überträgt.

Schweizer Präsenz

Die Schweiz ist nicht nur in der Leitung des Anlasses vertreten, sondern auch durch Werke verschiedener Schweizer Künstlerinnen und Künstler: Fischli & Weiss, Pipilotti Rist und Urs Fischer, um nur die bekanntesten zu nennen.

Doch auch jüngere, weniger bekannte Schweizer Kunstschaffende wie Mai-Thu Perret, Shahryar Nashat und Fabian Marti werden ausgestellt.

“Natürlich hat die Tatsache, dass jemand aus der Schweiz in der Direktion tätig ist, einen Einfluss auf Entscheide, und somit ist die Präsenz von Schweizer Künstlern sehr hoch”, sagt Giovanni Carmine, der Curiger bei der Kuratierung der Ausstellung unterstützt, gegenüber swissinfo.ch.

“Allerdings müssen wir bedenken, dass die Schweizer Kunst breit in die internationale Szene integriert ist. Wir leben in einer globalisierten Welt, in der die Künstler sich nicht mehr nur über ihre Nationalität definieren, sondern vielmehr über die Themen ihrer Werke oder die Formen, die sie in ihren Arbeiten anwenden.”

Und es fehlt auch nicht an Überraschungen: “Beispielsweise Jeanne Natalie Wintsch, eine unbekannte Schweizer Künstlerin, die in den 1940er-Jahren gestorben ist, und die wir dem Publikum erstmals in einer grossen Auswahl an Werken präsentieren”, so Carmine.

Riskante Entscheide

Die internationale Ausstellung der Biennale unterscheidet sich dieses Jahr aber auch durch den hohen Anteil junger Kunstschaffender: Von den 84 präsentierten Künstlern sind rund 30 unter 30 Jahre alt.

“Es ist eine Biennale, die einige Risiken eingeht”, sagt Carmine. “Wir stellen nicht nur die grossen Namen aus, man kann auch viele künstlerische Produktionen sehen, die im gegenwärtigen historischen Moment besonders interessant erscheinen.”

Wer sich also ab dem 4. Juni nach Venedig begibt, wird mit einer Myriade von Werken und Veranstaltungen im Zusammenhang mit moderner Kunst konfrontiert. “Ich hoffe, dass die Ausstellung den Besuchenden als unterhaltsam und auch etwas chaotisch in Erinnerung bleibt”, so Giovanni Carmine.

“Es wird eine Ausstellung, die sich dazu entschieden hat, an die Arbeit der Künstler zu glauben und diese vor das Spektakel setzt. Jetzt, wo wir uns im Endspurt befinden, kann ich sagen: Das ist uns gelungen!”

Die 54. Esposizione Internazionale d’Arte in Venedig wird am 3. Juni offiziell eröffnet und läuft für das Publikum vom 4. Juni bis 27. November 2011.

Ausgestellt werden 84 Künstlerinnen und Künstler, darunter 32 junge, die nach 1974 geboren wurden, sowie 30 Frauen. 

Die Kunstmesse wird durch die Teilnehmerländer finanziert. Dieses Jahr sind 88 Länder vertreten.

Erstmals dabei sind Andorra, Bangladesch, Haiti und Saudiarabien.

Andere Länder sind nach langer Absenz wieder dabei: Kongo (letzte Teilnahme 1968), Indien (1982), Irak (1990), Zimbabwe (1990), Südafrika (1995), Costa Rica (1993) und Kuba (1995).

Thomas Hirschhorn wird unter dem Titel “Crystal of Resistance” eine grosse Arbeit im Schweizer Pavillon in den Giardini di Castello zeigen (4. Juni – 27. November).

Andrea Thal kuratiert unter dem Titel “Chewing the Scenery” ein mehrteiliges Projekt in und um das Teatro Fondamenta Nuove (Cannaregio 5013, 4. Juni – 2. Oktober). Es besteht aus einer Filminstallation von Pauline Boudry und Renate Lorenz, einer installativen Dramatisierung von Tim Zulauf / KMUProduktionen, zwei Veranstaltungen im Juni und September mit Performances, Vorträgen, Screenings und Konzerten sowie einer Publikation mit diversen künstlerischen Beiträgen und Texten sowie Material zu den beiden Produktionen in der Ausstellung.

Veranstaltungen “Chewing the Scenery” im Teatro Fondementa Nuove
– Samstag, 4. Juni 2011, 20.00h
– Mittwoch 7. bis Samstag 10. September

 

(Quelle: Bundesamt für Kultur)

(Übertragung aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

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