The Swiss voice in the world since 1935

Fotos geben Drogensüchtigen ein Gesicht

Im Grossformat nicht zu übersehen: Fixerin Astrid auf einer Plakatwand in Bern. swissinfo.ch

Ein Fotozyklus auf öffentlichen Plakatwänden zeigt Momente aus dem Leben von Drogensüchtigen. Er rückt Szenen ins Blickfeld, die gerne ignoriert werden.

Der Berner Fotograf Michael von Graffenried begleitete zwölf Süchtige während längerer Zeit. Seine Arbeit ist zurzeit auch im Kornhausforum in Bern zu sehen.

«Mit Elend ‹Stutz› machen, das ist das Letzte!» Der junge Mann steht im Eingang zum grossen Saal des Kornhausforums in Bern, er macht kehrt und verlässt das Kornhaus Wut schnaubend.

Kurz darauf ein zweiter Mann. Auch er bleibt im Eingang stehen, wirft einen schüchternen Bilck auf die Kasse und auf die grossformatigen Panorama-Fotografien dahinter, dann zieht er wieder ab.

Die Fotos zeigen Momentaufnahmen aus dem Alltag von Drogenabhängigen. Der Eintritt kostet 8 Franken, ein Betrag, den Leute aus dem Drogenmilieu meist nicht bezahlen können.

Konfrontiert mit den zwei Szenen am Eingang zu seiner Ausstellung «Rosanna, Astrid, Peter und die anderen», sagt der Fotograf Michael von Graffenried gegenüber swissinfo: «Das ist die Museumsausstellung. Deshalb habe ich mir gesagt, ich muss diese Bilder auch auf die Strasse hängen. Und nun hängen sie in Basel, Zürich, Bern, Lausanne, Genf und Lugano, in jeder Stadt dreissig verschiedene Fotos auf Plakatflächen der Allgemeinen Plakatgesellschaft.»

Kontakt statt Ausgrenzung

Der Fotozyklus «Rosanna, Astrid, Peter und die anderen» entstand im Rahmen der Aktionstage von Contact Netz, das sich in Bern seit Jahren um Drogensüchtige kümmert.

Zusammen mit von Graffenried entwickelte Contact-Leiter Jakob Huber die Idee einer Reportage aus der Drogenszene, die Süchtigen unter dem Motto «Contact statt Ausgrenzung» Gesichter und Namen geben soll.

«Wir wollen einmal mehr Realitäten aufzeigen und wider das Verdrängen und Vergessen sensibilisieren», erklärt Ruth-Gaby Vermot-Mangold, Stiftungspräsidentin von Contact Netz.

Mit dem Auftrag, das ganze Spektrum des Drogenkonsums aufzunehmen und nur Leute zu porträtieren, die schriftlich dazu eingewilligt haben, bewegte sich Michael von Graffenried während 18 Monaten in der Drogenszene.

«Was zahlsch?»

Es sei sehr schwierig gewesen, das Vertrauen der Drogenkonsumierenden und der Süchtigen zu gewinnen, erklärt von Graffenried. «Die erste Priorität dieser Leute ist immer Geld. Sie brauchen den nächsten Schuss. Als ich das Projekt begonnen hatte, war die erste Frage immer: ‹Was zahlsch?›. Und ich musste dann sagen, dass ich nichts zahle.»

Während der ganzen Zeit habe er sich immer wieder gefragt, ob er den Süchtigen nütze oder schade. «Und am Schluss musste ich dann feststellen, was ich denen gab, war das Interesse an ihrem Leben.»

Er habe nur fotografiert, was da sei, aber nicht mehr wahrgenommen werde, erklärt von Graffenried. «Wenn man diese Szenen, die am Boden unten spielen, einen Meter höher auf diese Plakatwände hängt, wo sonst zum Konsum angetörnt wird, dann guckt man eben vielleicht.»

Möglicherweise lösten die Fotoplakate auch bei den Betroffenen selbst etwas aus, hofft von Graffenried. «Sie sehen dort ihr Leben eins zu eins. Das kann vielleicht – das mag ein frommer Wunsch sein – dem einen oder anderen einen Ansporn geben, etwas an seinem Leben zu ändern.»

Chill out contra knock out

In der Ausstellung im Kornhausforum irritiert zunächst, dass intime Momentaufnahmen aus dem Leben von Schwerstsüchtigen mit Bildern von Partygängern, die mit weichen Drogen experimentieren, vermischt werden.

Während sich da beispielsweise Bianca und ihre Partyfreunde mit einem Joint von den Strapazen der Street Parade erholen, spritzt sich Astrid gleich daneben in aller Öffentlichkeit eine Dosis Heroin, oder sie macht sich für den Strich zurecht.

Beim genaueren Hinschauen entdeckt man jedoch feine Unterschiede. Von Graffenried verwendet für die beiden so unterschiedlichen Drogenszenen verschiedene Stilmittel.

So zeigen die Aufnahmen aus der harten Drogenszene meist starke Kontraste. Je unerbittlicher die Szene, desto stärker die Kontraste. Bilder, die extrem aufwühlen, wie beispielsweise das von Astrid, die sich soeben einen Schuss gesetzt hat, wirken dadurch sehr abstrakt und unwirklich. Die Bilder aus der Partyszene dagegen sind weicher kontrastiert.

Junkies werden dazu meist in Einzelaufnahmen, Kiffer in Gruppenbildern gezeigt. Sie konsumieren ihre Drogen in der Gemeinschaft. Die Schwerstsüchtigen dagegen werden in ihrer ganzen Einsamkeit abgebildet.

Die Liebe zum Leben

Was die Aschenbecher mit der Aufschrift «Lucky Strike» unter von Graffenrieds Bildern im Kornhausforum zu suchen haben, ist zunächst nicht klar. Sie seien Teil der anderen Veranstaltung, die ebenfalls in diesem Saal stattfinde, erklärt die Frau an der Kasse.

«Live is a game» widmet sich der Liebe zum Leben und verbindet Installation mit Kino, Spielwiese und Party. Gesponsert wird die Veranstaltung von der amerikanischen Zigarettenmarke «Lucky Strike».

Auf die Frage, ob ihn diese Gegenüberstellung nicht störe und er sie nicht für zynisch halte, meint von Graffenried, dass sie sehr gut zu der Ausstellung passe: «Sie ist dialektisch sehr interessant.» Ausserdem habe er dem Kornhausforum sein Einverständnis gegeben.

Im Rahmen von «Live is a game» verwandelt sich das Kornhaus nachts in eine Diskothek. «Die jungen Leute sehen dann möglicherweise meine Bilder und sagen: ‹Oh, cool, Schwarzweiss-Fotos›. Dann schauen sie sie näher an, merken, dass da etwas stört und lassen sich durch diese kleine Provokation vielleicht zum Denken anregen.»

Ihm sei bewusst, dass Fotos die Welt nicht verändern können, hält er fest. «Aber sie können einen Gedanken mehr in einem etwas lahmen Gehirn anregen.»

swissinfo, Nicole Aeby

Die Fotoserie «Rosanna, Astrid, Peter und die anderen» entstand in Zusammenarbeit mit dem Landesmuseum, dem Kornhausforum Bern und dem Contact Netz Bern.
30 Bilder aus der Serie sind bis nach Weihnachten in 11 Schweizer Städten an öffentlichen Plakatwänden zu sehen.
Die ganze Serie zeigt das Kornhausforum in Bern vom 18. Dezember bis 16. Januar und ab August das Schweizerische Landesmuseum in Zürich.
Zur Ausstellung gibt es zwei Bildbände: «Cocainelove» und «Risk».

Michael von Graffenried, geboren in Bern, arbeitet seit 13 Jahren als Fotograf in Paris.

Mit seiner Reportage aus dem legendären Berner Fixerstübli 1987 und der Algerien-Reportage «Der unheimliche Krieg» von 1998 sorgte er für grosses Aufsehen.

Seit 1992 arbeitet von Graffenried vorwiegend im Panoramaformat und in Schwarzweiss.

Mit der Schweiz verbunden

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft