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Jeannette Muñoz und ihre Filme, die nie fertig sind

Jeannette Muñoz, liegend von oben fotografiert, neben sich eine Filmkamera
Jeannette Muñoz Courtesy of Jeannette Muñoz

Die in Zürich lebende chilenische Filmemacherin Jeannette Muñoz gehört zu den innovativsten Vertreterinnen des experimentellen Kinos der letzten zwei Jahrzehnte. Im Interview erklärt sie ihren "offenen Prozess".

Jeannette Muñoz wurde 1967 in Santiago geboren und studierte Bildende Kunst an der Universität von Chile, bevor sie in den 1990er-Jahren ein Stipendium in Paris annahm. Damals beschäftigte sie sich vor allem mit Fotografie.

Ihre ersten Erfahrungen mit Film machte sie mit einer tragbaren Super-8-Kamera, mit der sie Animationsfilme, Dokumentarfilme und alles drehte, was sie sonst noch erkunden konnte. Erst 2001, als sie anfing, eine Bolex-16-mm-Kamera zu benutzen, entwickelte sie ihren eigenen Stil.

Die leichtere und vielseitigere Kamera ermöglichte es ihr, neue Wege zur Beobachtung der Zeit in spezifischen Umgebungen einzuschlagen.

Damals beschloss sie, nach Chile zurückzukehren und das Viertel zu filmen, in dem sie in Santiago aufgewachsen war: El Cortijo. Es war der Beginn dessen, was sie als “open-process work” bezeichnet: Die Dreharbeiten zu einem Film folgen keinem festgelegten Zeitplan, viele ihrer Arbeiten sind laufende Projekte.

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Zurück nach Hause, hin und her

Die Umgebung ihrer Kindheit zu filmen, war für sie selbstverständlich. “Ich dachte immer an das, was ich zurückgelassen hatte, als ich nach Europa ausgewandert war, und so hatte alles, was ich filmte, einen autobiografischen Charakter: meine Strasse; die Menschen, die ich immer gekannt hatte. So entstand mein erstes Projekt mit offenem Ende, an dem ich seit mehr als 20 Jahren arbeite.”

“Ich begann zu filmen und das Material wurde immer umfangreicher. Zunächst machte ich mir keine Gedanken darüber, wie ich es ausstellen sollte. Ich hatte viele Formen für meine Filme im Kopf und viele Ideen, wie ich sie zeigen könnte.” Im Jahr 1998 zog Muñoz in die Schweiz, aber sie hat nicht aufgehört, nach Santiago zu reisen.

Jeannette Muñoz beim Drehen
Die Filme von Jeannette Muñoz befinden sich in einem ständigen offenen Prozess und können auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Längen gezeigt werden. Courtesy of Jeannette Muñoz

Aus ihren Aufnahmen sind zwei Serien entstanden, Envíos (Depeschen) und Puchuncaví. Sie bestehen aus mehreren kurzen Fragmenten von jeweils etwa drei Minuten Länge, die im Laufe der Jahre gesammelt wurden. Sie werden ständig durch neues Material ergänzt. So befinden sich die Filme in einem ständigen Entwicklungsprozess und können auf unterschiedliche Weise und in verschiedenen Längen ausgestellt werden. 

Die Reihe Envíos begann 2005. Sie besteht aus Kurzfilmen, die als Briefe an ihre Familie und Freunde gezeigt werden. Das Projekt umfasst bereits 34 Episoden.

“Jedes Envío hat eine besondere Geschichte und ist mit der Person verbunden, die es erhält”, erklärt Muñoz. “Die Serie ist auch autobiografisch. Es ist eine Erinnerung, ein Gespräch, ein Ort, der mich an diese Person erinnert. Das Wichtigste ist, dass sie jemandem gewidmet sind, der mir nahe steht und der mir wichtig ist. Ich neige zu offenen Formen, weil sie der Abwesenheit von Form am nächsten kommen.”

Szene aus Envío 24
Szene aus “Envío 24” (2010) Jeannette Muñoz

Der Kreis schliesst sich

Zwischen 2011 und 2012 arbeitete Muñoz an zwei Kurzfilmprojekten, die sie auf traditionellere Weise, also nicht nach ihrer Methode des offenen Prozesses, realisierte.

Ihr Film Villatalla (2011) dokumentiert ein abgelegenes Dorf in Ligurien, Italien, in dem nur noch wenige Einwohner:innen leben und Arbeitsplätze rar sind. Das soziale Leben ist langsam und von der Natur geprägt. Die Dorfbewohner:innen sind alt und die Aktivität in den Olivenplantagen ist auf ein Minimum geschrumpft.

“Es ist der letzte Ort in einer der Schluchten der ligurischen Alpen”, sagt sie. “Dort oben ist man weit weg von allem. Ich glaube, es gibt noch viele Orte mit diesen Merkmalen, und die Tendenz ist, dass sie zu touristischen Orten werden. Nicht der traditionelle Tourismus, sondern ein Tourismus, der genau diese Abgeschiedenheit sucht. Ich verstehe das Misstrauen der Menschen in Villatalla”.

Nach den Ligurischen Alpen ging Muñoz folgte Strata Natural History (2012), einer persönlichen Reise, die sich mit der Geschichte einer Gruppe von Kawéskar befasst, einem indigenen Volk aus Patagonien, das Ende des 19. Jahrhunderts in Menschenzoos in Europa ausgestellt wurde.

Die letzte Station der Ausstellung war Zürich im Jahr 1882, wo die meisten der bereits von Krankheiten gezeichneten Kawéskar schliesslich starben. Der Film kombiniert Bilder von Besuchen in Parks, Museen und Zoos in Berlin, die Muñoz aufgenommen hat, mit Gewaltfotografien aus dem Archiv der Berliner Gesellschaft für Anthropologie, Ethnologie und Urgeschichte.

“Ich habe mich auf die Suche nach den noch vorhandenen kolonialen Spuren in Berlin gemacht. In diesem Fall waren es Fotoarchive und ethnologische Zeitschriften aus dem späten 19. Jahrhundert”, sagt sie.

“Der Rundgang durch die Stadt hat mir gezeigt, dass der Kolonialismus eine ideologische Kraft ist und eine Art, den Rest der Welt zu sehen. Eine Ideologie, die in der Stadt immer noch präsent ist. Ich denke, es ist wichtig zu zeigen, dass der Kolonialismus nicht in der Vergangenheit liegt, sondern in der Gegenwart fortbesteht”. Der Film zielt darauf ab, diese Elemente in das heutige Berlin zu integrieren.

Ein Mann fotografiert einen Bildschirm, der das Gesicht einer indigenen Person zeigt
“Strata Natural History” (2012) Jeannette Muñoz

Prekäre Natur

Puchuncaví, 2014 begonnen, ist ein weiterer Film im offenen Verfahren. Er konzentriert sich auf den traditionsreichen chilenischen Strand von Puchuncaví, der durch die Entwicklung der Industrie und des Hafens in der Region verwüstet und verschmutzt wird. Der Strand wird auch von Badegästen, Surfer:innen, Tourist:innen und Tieren intensiv genutzt.

Die Akkumulation der Fragmente offenbart viele gleichzeitige Schichten, die Muñoz an diesem Ort wahrnimmt. Einige der jüngsten Aufnahmen wurden in der Schweiz gedreht, z. B. Vögel, die aufgrund des Bootsverkehrs nicht mehr nisten können, oder der Bau eines Kunstwerks im Auftrag von Luxuswohnungsbesitzern.

Muñoz entlarvt mit ihrem Blick diese Übergriffe der postindustriellen Landschaft auf die Natur mit subtilen Signalen der zunehmenden Prekarität dessen, was von der Tierwelt im urbanen Raum übrig geblieben ist.

Als sie SWI swissinfo.ch ein Fragment zeigt, das vollständig in der Schweiz gedreht wurde, kommentiert sie, dass “die Schweiz mit Puchuncaví als Unterwasserportal verbunden ist, vom Meer zum See. Sogar in den Seen in diesem Gebiet kommt es zu kleinen Umweltkatastrophen. Die Vögel, die man in diesem Fragment sieht, schaffen es nie, ihr Nest zu bauen. Die vom Schiffsverkehr und von Stürmen verursachten Wellen verhindern, dass ein Vogelpaar seine Eier schützen kann, und so landen sie jedes Jahr auf dem Grund des Sees.”

Ausschnitt aus einem Film, der einen Hund an einem Strand zeigt
Ausschnitt aus “Puchuncaví” (2014) Jeannette Muñoz

Die Entscheidung, die Schweiz in die Puchuncaví-Reihe einzubeziehen, hebt das Projekt auf eine Ebene der Reflexion der gegenwärtigen ökologischen Katastrophe als Ganzes. Die Filmreihe kann nun überall hingehen, ohne ihr Herz in Chile zu verlieren, wie es der persönliche Stil des Filmemachens nahelegt.

“Ich glaube, das Leben in der Schweiz hat mir verdeutlicht, was es bedeutet, in einem Land zu leben, das direkt oder indirekt von der Gewinnung von Rohstoffen lebt und die Gewinne einstreicht. Zu diesen Vorteilen gehört auch eine saubere Umwelt.”

Muñoz’ aufmerksames Auge findet in der Landschaft Motive für historische und existenzielle Reflexionen.

“Die Landschaften sprechen”, sagt sie. “Sie sprechen durch ihre Strukturen; man kann ihre Nuancen sehen. Die Spuren und Echos, die sie enthalten, sprechen. Auch die Menschen sprechen für sie, weil sie Teil der Landschaft sind. Bäume erzählen Geschichten. Die Infrastrukturen, die noch funktionieren, die, die nicht mehr funktionieren, die, die aufgegeben wurden, sie alle sprechen.”

Wenn Muñoz immer wieder an einen bestimmten Ort zurückkehrt, “wird er magisch, ich beginne, unglaubliche Ereignisse zu sehen und zu erleben. Die Hunde, die Pelikane, die Nashörner, usw. sprechen zu mir. Die Ecken und die Wellen sprechen. Ich filme einfach und sammle, was ich finde. Deshalb filme ich Orte über lange Zeiträume hinweg, weil ich über die Oberflächlichkeit der ersten Begegnung hinausgehen möchte. Ich denke, dass Orte viel Zeit verdienen.”

Im Helmhaus in Zürich findet eine Ausstellung mit Film- und Kunstwerken von Jeannette Muñoz statt. Sie wird vom 18. April bis zum 16. Juni 2024 zu sehen sein.

Editiert von Virginie Mangin, aus dem Englischen übertragen von Marc Leutenegger.

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